Vor einigen Monaten erhielt ich Besuch von einem jungen serbischen Historiker. Wir unterhielten uns über verschiedene Themen, und eher en passant fragte ich, was ihn eigentlich nach Deutschland führe. Die Antwort lautete, er suche diejenigen auf, mit denen ein Gespräch lohne. Deswegen sei er auch schon bei Ernst Nolte gewesen.
Was mir gefiel, war die Betonung der Selbstverständlichkeit. Selbstverständlich lohnte es sich, mit Ernst Nolte zu sprechen. Selbstverständlich lohnte es sich nicht, mit dessen Feinden zu sprechen, dem, was sich gern als „das kritische Deutschland“ (Ulrich Raulff) bezeichnet. Was sollten die Tonangeber, also die, die nicht „umstritten“ sind, schon beizutragen haben: Zum Verständnis der revolutionären Jahrhunderte, zum Verständnis der Gegenwart, zum Verständnis der Ereignisse, die kommen werden?
Nolte hielt zu all dem etwas bereit: immer Fundiertes, Wohldurchdachtes, Scharfsinniges, oft auch Verstörendes, Provozierendes. Wenn das heute eher wieder Anerkennung findet als in den vergangenen Jahrzehnten, dann weil jemand wie Nolte zwar aus der öffentlichen Debatte ausgeschlossen werden konnte, aber seine unterirdische Wirksamkeit nicht aufzuhalten war.
Gelehrter von internationalem Rang
Das, was Nolte selbst seine „Ächtung“ nannte, das, was zur Verfemung eines Mannes führte, der bis dahin als Gelehrter von internationalem Rang und als einer der „wenigen bedeutenden Historiker unserer Zeit“ (Joachim C. Fest) galt, war Folge der Auseinandersetzung um einen einzigen Text. Der war am 6. Juni 1986 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ erschienen.
Es handelte sich um den Abdruck einer Rede, die Nolte bei den Frankfurter Römerberggesprächen hatte vortragen wollen. Allerdings war dem Veranstalter beim Lesen des Manuskripts der Schrecken in die Glieder gefahren; er lud Nolte wieder aus, der sich darum zu dieser Publikation entschloß.
Daß die wenigen Zeitungsspalten selbst Geschichte machten und den „Historikerstreit“ auslösten, der nicht nur die intellektuelle Entwicklung der späten Bonner, sondern auch die der frühen Berliner Republik wesentlich mitbestimmen sollte, hing mit der Reizwirkung zweier Behauptungen Noltes zusammen: daß es einen „kausalen Nexus“ zwischen dem roten „Klassenmord“ und dem braunen „Rassenmord“ gegeben habe, und daß dabei der kommunistischen das „faktische Prius“ gegenüber der nationalsozialistischen Massenvernichtung zukomme.
Einseitige und ungerechtfertigte Angriffe
Wir wissen heute sehr genau, daß es Noltes Gegnern, angeführt von dem Soziologen Jürgen Habermas und dem Historiker Hans-Ulrich Wehler, niemals um die Richtigkeit dieser Aussagen ging, sondern nur um eine Möglichkeit, den entscheidenden Schlag gegen jenen „Revisionismus“ zu führen, der die These von der deutschen Kollektivschuld zu „relativieren“ drohte.
Daß es Nolte je um eine so vordergründige Absicht ging, darf man getrost verneinen. Seine eigene Position hat sich überhaupt erst unter dem Druck der Angriffe politisiert. Gerade deren Einseitigkeit und Ungerechtigkeit mußte ihm vor Augen führen, wie sehr seine Kontrahenten Grund zur Sorge hatten, irgendjemand werde ihre Geschichtsklitterei als solche entlarven.
Klar zu erkennen war das anläßlich von Noltes Dankesrede bei Verleihung des Adenauer-Preises im Jahr 2000, wenn er davon sprach, es müsse die „kollektivistische Schuldzuschreibung“ im Hinblick auf die deutsche Nation überwunden werden, weiter sei jene „Abhängigkeit“ vom Nationalsozialismus zu beseitigen, die daraus resultiere und die grundsätzlich das Gegenteil dessen für richtig erkläre, was Hitler in vergleichbarem Fall getan hätte, schließlich sollte man den Mut finden, die Monumentalisierung und Ästhetisierung der Erinnerung an die Judenvernichtung in Frage zu stellen, die eine totale und damit „widermenschliche“ Erinnerung als politisches Machtmittel verankern wolle.
Reformbereiter Liberaler
An kaum einer anderen Stelle hat Nolte sich so weit von der sonst geübten politischen Zurückhaltung entfernt. Die war für ihn eine notwendige Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit. Daß er sich dazu entschloß, die Reserve aufzugeben, war weniger eine Folge persönlicher Verbitterung, mehr die Konsequenz aus der Einsicht, daß wissenschaftliche Arbeit im eigentlichen Sinn eine bürgerliche Existenz in einer bürgerlichen Gesellschaft voraussetze und diese Voraussetzung nunmehr entfallen war. Nolte hat das mit Bedauern festgestellt, was seine Biographie verständlich macht, die immer wieder von der existentiellen Erfahrung der Gefahren des Extremismus gekennzeichnet war.
Am 11. Januar 1923 in Witten an der Ruhr geboren, war Nolte in der NS-Zeit aufgewachsen. Wegen Untauglichkeit vom Wehrdienst befreit, nahm er nicht als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil. Stattdessen besuchte er nach dem Abitur die Universitäten Münster, Berlin und Freiburg im Breisgau, um Philosophie, Griechisch und Germanistik zu studieren. Unter seinen akademischen Lehrern hatten vor allem Nicolai Hartmann und Martin Heidegger großen Eindruck auf ihn gemacht.
Nach Kriegsende kehrte er noch einmal an die Hochschule zurück und promovierte 1952 in Freiburg mit einer Dissertation über die „Selbstentfremdung und Dialektik im Deutschen Idealismus und bei Marx“. Die frühe und intensive Beschäftigung mit Marx hat in gewissem Maße auch die Sichtweisen bestimmt, die Nolte für sein Buch „Der Faschismus in seiner Epoche – Action Française, Italienischer Faschismus, Nationalsozialismus“ (1963) entwickelte. Das erklärt weiter, warum die Arbeit überwiegend als „linke“ Interpretation des Faschismus verstanden wurde. Eine Einschätzung, der Nolte zuerst nicht widersprach, obwohl man ihn, was seine weltanschauliche Position betraf, besser als reformbereiten Liberalen betrachtet hätte.
Außergewöhnliche Produktivität
„Der Faschismus in seiner Epoche“ wurde kurz nach der Publikation von der Universität Köln als Habilitationsschrift angenommen. Nolte quittierte daraufhin den Schuldienst, in dem er seit 1953 tätig gewesen war, und übernahm 1965 einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Marburg an der Lahn, 1973 wechselte er an die Freie Universität Berlin. Nolte hat in den beiden Jahrzehnten bis zu seiner Emeritierung keine „Schule“ gebildet und sich erst recht nicht an den Strippenziehereien des akademischen Betriebs beteiligt.
Das erklärt wahrscheinlich auch einen Teil seiner außergewöhnlichen Produktivität, der wir ein reiches Spätwerk verdanken. Unter den mehr als zwanzig Titeln sei wenigstens das leider vielfach übergangene Buch „Marxismus und Industrielle Revolution“ (1983) genannt, dann seine Darlegung zur eigenen Position im „Historikerstreit“, die unter dem Titel „Der Europäische Bürgerkrieg“ (1987) in mehreren Auflagen erschien, der eher theoretisch orientierte Band „Historische Existenz“ (1998) und seine Auseinandersetzung mit dem Islamismus „Die dritte radikale Widerstandsbewegung“ (2009).
Nolte hat sich nicht erst mit diesen Arbeiten in die Gruppe jener Männer eingereiht, die er als „Geschichtsdenker“ bezeichnete („Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert“, 1991). Historiker einerseits, Philosoph andererseits, ging es ihm nicht nur um die Rekonstruktion und Deutung des Vergangenen im Detail, sondern um weite Zusammenhänge. Die Zahl derjenigen, die große Würfe wagen können, ist von Natur begrenzt. Ernst Nolte gehörte zu ihnen. Mit seinem Tod ist eine wichtige Stimme verstummt.