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Tränenregen

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Den Interpreten geht es wie den Menschen: Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn  der Lebenden. Glücklich, wer den zu Tode gerittenen Werken der Klassiker neue Wahrheit abzuringen, glücklicher noch, wer den gordischen Knoten im Gehirn zu durchschlagen vermag und die Werke zu nehmen, als wären sie vor ihm noch von keinem und keiner genommen worden. So einer will Jonas Kaufmann gerne sein.

Jedoch ist bei der Marke Kaufmann, derzeit bestbeworbener deutscher Tenor, die Diskrepanz zwischen behauptetem und eingelöstem künstlerischen Anspruch ohrenfällig, zwischen dem, was aus seinem Gesang herauszuhören ist, und dem, was seine Vermarkter in seinen Gesang hineingehört haben möchten. Letzteres wollte dem Kritiker unter noch so autosuggestivster Anstrengung nicht gelingen. Die innere Wahrheit des Kunstwerks scheint in keinem Moment von Kaufmanns Interpretation der Müller-Lieder, Franz Schuberts Liederzyklus „Die schöne Müllerin“ op. 25, D 795, auf (Decca  478 1528).

Der Zyklus verlange nach einer jungen Stimme, redet Kaufmann. Die seine klingt nicht eben unreif, technisch aber doch, generell baritonal bis hinterhalsig. Sein Singen ist vom Brustregister aus gedacht und realisiert, sein Forte nicht aus dem Piano entwickelt, sein Piano ein reduziertes Forte der Bruststimme, diese in der Höhe entweder aufgerissen oder verengt, gequetscht. Wo sie nicht hinanreicht, weicht er in die Fistelstimme aus. Wirklich schöne Farben kann Kaufmanns Stimme annehmen, wenn die Versöhnung von Brust- und Kopfregister gelingt – selten genug.

Der Zyklus verlange nach einer jungen Seele, redet Kaufmann und posiert mit Stielers Porträt der Helene Sedlmayr von 1831. Freilich kann, wem es lediglich um das unmittelbare sängerische Nacherleben erster unglücklicher Liebe geht, ganz gleichgültig sein, auf welchem Objekt das Erleben der jungen Seele denn nun eigentlich zu liegen kommt. Neben Kaufmanns „schöner Münchnerin“ stünden Luise Hensel, Wilhelm Müllers unerfüllte Liebe, und auch Elisabeth von Staegemann, in deren Berliner Salon Müllers böse Charade in Szene gesetzt wurde, zur Verfügung. Nur eben für Schubert läßt sich so recht kein Objekt beibringen. Mit jener Sängermasche, die längst überlebte Tenortraditionen in schlechter Unendlichkeit fortführt, auch wenn sie auf der Opernbühne wohl noch oder wieder als expressive Darstellung durchgehen könnte, wird Schuberts kunstvolle Verknotung von Erleben und Erzählen, von Erzähler, Müllerbursche, Müllerin und Bach, weder zu lösen noch zu durchschlagen sein.

Eingesprengt in Jonas Kaufmanns und Helmut Deutschs Pauschalangebot, öffentlich dargeboten am 30. Juli 2009 im Münchner Max-Joseph-Saal, finden sich Momente – nicht nur in den Liedern, über die mit Stürmen und Drängen schnell hinwegzukommen ist, sondern auch in den anderen, dauernden, wie „Tränenregen“ –, die offenhalten, ob Kaufmann, aller Begrenztheit seiner stimmlichen Mittel zum Trotz, nicht doch einmal einer werden könnte, der mehr und anderes in dem Zyklus aus Schuberts Schicksalsjahr 1823 heraufzuholen imstande wäre als nur eine läppische Liebesgeschichte aus dem Jahr 2009. Aber so einer will Jonas Kaufmann nicht sein.

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