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Politisch unhygienisch

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Im alten Persien war es Brauch, daß nach dem Tod eines Herrschers eine Woche lang Gesetzlosigkeit „herrschte“, weil alle Ordnungen und Werte aufgehoben waren. Dieser Zustand der Anomia wurde in der Regel härter empfunden als die schlimmste Despotie und überzeugte die Menschen kurz und bündig von der Notwendigkeit verbindlicher Werte für den Zusammenhalt einer Gesellschaft.

In Deutschland hat dieser Erkenntnisprozeß nach vierzig Jahren Kulturrevolution erheblich länger gedauert. Er ist aber seit einiger Zeit im Gang und bestätigt wichtige Erfahrungen der Geschichte. In allen Auseinandersetzungen um unsere Schul- und Bildungssysteme, um die Berufschancen der Jugendlichen und um Jugendgewalt, um das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft und neuerdings um die Wirtschaftskrise wird die Bedeutung von „Werten“ hervorgehoben. Die Berliner Sozialdemokraten wollen die Menschen in Zukunft „Durch Werte überzeugen“ – so der Slogan einer SPD-Plakataktion zu Beginn des Super-Wahljahres 2009.

Allenthalben wächst die Erkenntnis, daß man mit bestimmten Werten nicht nur Konzentrationslager leiten kann – wie Oskar Lafontaine 1982 die „Sekundärtugenden“ Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit von Kanzler Schmidt zu diskreditieren versuchte – , sondern auch Schulen und Universitäten, Betriebe und Behörden, Sportvereinigungen und gesellschaftliche Einrichtungen aller Art. Selbst Alt-68er und andere Linke lassen in zunehmendem Maße Einsicht erkennen, daß die angestrebte repressionsfreie sozialistische Gesellschaft auf dem Weg antiautoritärer und selbstbestimmter Erziehung bislang nicht erreicht worden ist. Viele sind auf dem Langen Marsch durch die Institutionen in einflußreichen Positionen hängengeblieben und bestimmen von dort aus das öffentliche Meinungsklima in unserem Volk. Damit ist das Thema des Buches des Berliner Publizisten Richard Wagner angedeutet.

Die revolutionäre Losung der Bolschewiki im Jahre 1917 „Alle Macht den Räten“, unter der die 68er ihren Langen Marsch durch die Institutionen angetreten haben, hat sich insofern erfüllt – wenn auch in anderer Weise als zunächst beabsichtigt. Man braucht nur an die vielen Studien- und Schulräte, Regierungs- und Konsistorialräte, Betriebs- und Rundfunkräte sowie alle möglichen Beiräte zu erinnern, in denen die Richtlinien unserer Politik im wesentlichen bestimmt werden. Die Generation der 68er hat damit die Denkmuster installiert, „die bis heute wirksam sind und nach wie vor unserer Gesellschaft und ihre Denkprozesse blockieren. Selten hat eine Generation es geschafft, ihre Machtinteressen so überwältigend als Menschheitsrettungsplan zu gestalten, indem sie sich zum einzig berufenen Dompteur des Monsters Drittes Reich erklärten. Sie schafften es, sich trotz allem in der defensiven, durch das Dritte Reich wehrlos gemachten deutschen Öffentlichkeit moralisch unangreifbar und gleichzeitig fit für die große Karriere zu machen. Die 68er sind die letzte Generation mit sicheren Arbeitsplätzen und mit sicherer Rente.“ Und daran wird sich in absehbarer Zukunft nichts ändern.

Die zugegeben teilweise sehr harte Kritik an Theorie und Praxis der 68er darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie weithin nicht auf Klärung, sondern auf Verklärung ihrer politischen Intentionen abzielt. Damit trägt sie zur allgemeinen Verwirrung in der Wertediskussion bei. Denn welche Werte sind gemeint? Und wer definiert sie?

Ernst Jünger verdanken wir ein treffliches Diktum zu diesem Thema: „Die geistige Unterwerfung beginnt dort, wo man die Fragestellung aufnimmt, gleichviel, welche Antworten man dann auch findet.“ Es wird gegenwärtig kaum noch bemerkt, daß wir uns fast nur noch an den Fragestellungen und Definitionen der 68er orientieren, daß wir aber kaum noch bereit sind, von der vorherrschenden Meinung abweichende Fragen zu stellen – sei es aus politischem Desinteresse oder Naivität, sei es aus Angst, gegen die strengen Regeln der Political Correctness zu verstoßen. Wo es da und dort doch noch der Fall ist, werden sie nach diesen Regeln als Indiz für konservativ-radikale Gesinnung denunziert, mit denen sich aus Gründen der „politischen Hygiene“ nach dem Verhaltenskodex der 68er eine Auseinandersetzung verbietet.

Aus ebendiesem Grund stellt Wagner sehr viele naheliegende Fragen – nicht aus Lust an Polemik oder Rechthaberei, sondern aus politischer Verantwortung zur aktiven Verteidigung der Restbestände einstmals verbindlicher Werte: vor allem der Meinungs- und Gewissensfreiheit.

Das entscheidende Problem der künftigen Auseinandersetzungen um die Werte in einer multikulturellen Zivilgesellschaft liegt allerdings nicht allein bei den 68ern in ihren gesicherten Positionen. Es liegt vielmehr bei ihren nach wie vor zahlreichen klammheimlichen Sympathisanten, die weder fähig noch willens sind, sich aus dem ideologischen Bannkreis der Systemveränderer zu lösen. Nach vierzig Jahren Kulturrevolution mit allen Konsequenzen für das politische Verhalten haben sie weithin keinen Mut mehr, „sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen“ – einstmals ein Grundsatz aufgeklärten Denkens. Wann wird man sich in den verantwortlichen Kreisen unseres Volkes an diesen Grundsatz wieder erinnern? Vielleicht nach der Lektüre dieses Buches.

Richard Wagner: Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte. Aufbau Verlagsgruppe, Berlin 2008, gebunden, 163 Seiten, 16,95 Euro

Foto:  Michael Ruetz, Sozialisierung 1969: Denkmuster installiert

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