Vor 250 Jahren erschien Adam Smiths moralphilosophisches Hauptwerk „The Theory of Moral Sentiments“ (dt. 1770 als „Theorie der moralischen Empfindungen“). Dieses Buch, damals ein Bestseller, machte seinen Autor zu einer europäischen Berühmtheit. Heute ist es, obgleich von Smith selbst höher eingestuft als seine spätere nationalökonomische Abhandlung über den Wohlstand der Nationen, im Vergleich zu letzterer weitgehend in Vergessenheit geraten.
Das ist ein Grund dafür, weshalb Smith als intellektueller Pionier einer liberalen Wirtschaftsordnung bei der augenblicklich opportunen Neoliberalismus-Schelte gern in historische Mithaftung für ökonomische Auswüchse des Systems genommen wird.
Solche Vorhaltungen hängen wissenschaftsgeschichtlich meistens mit der besonders im deutschen Kulturraum verbreiteten Umschwungsthese zusammen, nach der Smith sich von dem idealistisch gesinnten Moralisten der „Theory“ zum materialistisch eingestellten Anwalt wirtschaftlichen Egoismus im „Wealth of Nations“ (1776) gewandelt habe. Das sogenannte Adam-Smith-Problem löst sich aber bei näherem Hinsehen als Fata Morgana auf, denn beide Werke sind den gleichen epistemologischen Prämissen und dem gleichen methodischen Ansatz verpflichtet.
Bereits der allererste Satz der „Theory“ gibt die maßgebliche Perspektive vor, denn Smith registriert sogleich, ohne das Vorhandensein von Selbstsucht zu leugnen, die von radikalen Pessimisten wie Hobbes und Mandeville bestrittenen altruistischen Neigungen des Menschen. Diese Grundbefindlichkeit erläutert er an dem zentralen Begriff der sympathy, der Fähigkeit des Menschen, Anteil am Geschick anderer zu nehmen, die ihn durch die Vorstellungskraft über die Schranken der eigenen Person hinausträgt. Die gemeinschaftsbildende Funktion der sympathy wird vertieft durch die Konzeption eines fiktiven impartial spectator (unparteiischen Zuschauers), der es uns ermöglicht, unsere eigenen Vorannahmen zu überprüfen, indem wir uns in die Lage anderer versetzen und herauszufinden suchen, ob sie mit uns sympathisieren können oder nicht. Der unparteiische Zuschauer verkörpert gewissermaßen das Verstandesmoment sozialer Interaktion.
Smiths psychologische Grundlegung menschlicher Moral ist alles andere als ein idealistischer Entwurf, denn der Autor der „Theory“, Gegner lebensfeindlicher theologischer Verhaltenskodizes, war kein weltabgewandter Moralprediger, sondern ein unvoreingenommen der vielschichtigen Wirklichkeit zugewandter Moralist im Sinne Montaignes, der beschreibt, was ist, aber nicht, was sein soll. Schon in der „Theory“ geht es Smith allein um eine pragmatische Auseinandersetzung mit der Realität.
Dieser Zugriff prägt die nähere Ausgestaltung des wegweisenden Empathie-Konzepts, die deutlich macht, daß Smith keinem abstrakten asketischen Ideal nachjagte, sondern auf einen mit den gesellschaftlichen Antriebskräften seiner Zeit verträglichen Befund abzielte; die „Theory“ und der „Wealth of Nations“ sind durch eine empiristische Nabelschnur miteinander verbunden.
Der Begriff der sympathy ist nämlich keineswegs mit benevolence (Wohlwollen) gleichzusetzen – Smith hat das puristische Tugendsystem seines Lehrers Francis Hutcheson stets abgelehnt –, sondern so weit gefaßt, daß er nicht-altruistische Empfindungen einschließt. Infolgedessen wird auch self-love (Eigenliebe) keineswegs mißbilligt. Vielmehr bildet die Asymmetrie unserer sympathetischen Empfindungen – der von Smith beobachtete Umstand, daß Menschen lieber den Wohlstand der Großen bewundern und nachzuahmen versuchen, als an den Sorgen anderer teilzunehmen – den Ansatzpunkt für gesellschaftliche Stabilität und zivilisatorischen Fortschritt. Schon in der „Theory“ veranschlagt Smith das Selbstinteresse als integralen, nicht hinwegzudenkenden Bestandteil der menschlichen Natur und sieht in ihm das Antriebsmoment für gesellschaftliche Dynamik.
Dabei bringt die Neigung des Menschen, seinen Mitmenschen zu gefallen, und das Bestreben, des Gefallens würdig zu sein, also das Bemühen um Billigung durch andere, den unparteiischen Zuschauer ins Spiel, an dessen Reaktionen der einzelne die Sozialverträglichkeit seines Tuns abschätzen kann. Mit dem unparteiischen Zuschauer hat Smith eine Kontrollinstanz eingebaut, welche die zeitgemäß-realistische Vereinbarkeit von individuellem Selbstinteresse und gesellschaftlichem Gesamtwohl ermöglicht. Das auch auf Anerkennung anderer bedachte, geläuterte Selbstinteresse ist ein gemeinschaftsförderlicher Impuls.
Smith war ein unbestechlicher Realist, der den Menschen weder besser noch schlechter machte, als er ist. In der von ihm eingeschlagenen via media zwischen radikalem Egoismus – er kritisiert nachdrücklich Mandevilles einseitige, jegliche moralischen Neigungen leugnende These vom zügellosen Selbstinteresse des Menschen in dessen provozierender „Bienenfabel“ – und reinem Altruismus steckt noch etwas von klassizistischer Balance.
Trotz seiner optimistischen Grundhaltung war Smith kein kritikloser Fortschrittsapostel, und er wußte, daß die schon in der „Theory“ im Bild der unsichtbaren Hand (Gottes) suggerierte Interessenharmonie gefährdet sein kann. Während er in der „Theory“ vor Eitelkeit und Selbstgefälligkeit warnt, stellt er im „Wealth of Nations“ Monopole und Kartelle begünstigende Privilegien an den Pranger. In beiden Werken erklärt er deshalb korrigierende Eingriffe des Staates zur Behebung struktureller Defizite, die er in sein realistisches Kalkül einbezieht, für legitim.
Man sollte Smith nicht länger in eine Ecke stellen, in die er nicht gehört. Er kann nicht zum Doktrinär einer Laissez-Faire-Ideologie, zum Verfechter rigorosen Manchestertums gestempelt werden. Die „Theory“ und der „Wealth of Nations“ fußen auf demselben empirischen Fundament; dem Austausch auf dem Markt der Normen im ersteren entspricht der Austausch auf dem Markt der Waren im letzteren Werk. Statt Smith für neoliberale Auswüchse verantwortlich zu machen, sollte man lieber Werkgerechtigkeit walten lassen. Das Publikationsjubiläum der „Theory of Moral Sentiments“ lädt dazu ein, sich an den originalen Smith zu halten, statt auf trügerische Derivate zu setzen.
Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist Emeritus für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.
Foto: Smith-Buch: Moralist im Sinne Montaignes