Ein Büchermacher dieser Art erhielt noch nie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: der Künstler Anselm Kiefer, dessen in verschiedenen Installationen wiederkehrende gewaltige Folianten aus Blei nur ein Indiz unter vielen für seine Nähe zum Buch sind. Erstaunlicher als die Entscheidung für Kiefer, und nicht frei von Widersprüchen, ist die Begründung, die der Börsenverein dafür gegeben hat: „Gegen den Defätismus, der Buch und Lesen eine Zukunft abzusprechen wagt, erscheinen seine monumentalen Folianten aus Blei als Schutzschilde.“ Das klingt reichlich defensiv. Und auch vergeblich, wenn es in derselben Mitteilung heißt, Kiefer konfrontiere uns mit „der störenden moralischen Botschaft vom Ruinösen und Vergänglichen“. Gälte diese Botschaft dann nicht auch dem Buch? Dankbar jedenfalls wurden in den meisten Medien die düsteren Epitheta über das Kiefersche Werk wiederholt: von Kiefer als dem Grübler, Denker, Einzelgänger, von den „Farben des Saturn“, dem „Grau-Braun der Melancholie“, vom Aufarbeiter der – deutschen – Vergangenheit, vom „gewichtigsten Traumata-Träumer der deutschen Kunst“. Es ist eine Deutung aus den Oberflächenbeschaffenheiten seiner Materialien: Blei, Sand, Holz, Draht, Stroh, getrocknete Gräser und Blumen, Zweige, Haare, Stacheldraht, Glas. Die Farbskala ist entsprechend reduziert auf Grau, Braun, Ocker, Weiß und Schwarz und was unter diesen an Zwischentönen möglich ist. Aber stimmen diese Deutungen? Wenn die Antworten so einfach wären, wozu dann diese Kunst? Wozu dann immer neue Ansätze mit ähnlichem Ausgangsmaterial? Kiefer ist nie müde geworden, darauf hinzuweisen, daß das Vergängliche ihn nicht um seiner selbst willen interessiert. Er, der in den letzten Kriegsmonaten 1945 in der in Schutt und Asche liegenden Stadt Donaueschingen geboren wurde und in deren Trümmern aufwuchs, sah darin nie den Untergang, sondern stets den Übergang: „Trümmer sind an sich Zukunft,“ so Kiefer in einem Zeit-Interview 2005. Als das Dach des Kölner Doms abgetragen und restauriert wurde, erwarb Kiefer einige der Bleiplatten und verarbeitete sie in dem Werk „20 Jahre Einsamkeit“ (1993). Diese Haltung ist alles andere als konservatorisch-rückwärtsgewandt. Alles was geschaffen wurde, kann umgestaltet werden; alles was geschrieben wurde, kann überschrieben werden. Keine Kunst ist so sehr Palimpsest wie diejenige Kiefers. Sie könnte deshalb kaum gleichgültiger gegen Moral sein. Ihre Quelle ist: das Nichts. „Ich habe keine Überzeugungen. Da ist nur ein schwarzes, schwarzes Loch“, bekannte Kiefer auf einer Podiumsdiskussion in London vor drei Jahren. In diesem Nichts liegt auch die denkbar größte Freiheit zu einem grenzenlosen Nominalismus. Und damit sind wir wieder beim Buch: Zu verstehen, daß die Entscheidung des Börsenvereins ebenso kühn wie triftig ist, hindert uns vielleicht unser funktionaler Buchbegriff, ein Begriff, der in dem Sprichwort zum Ausdruck kommt, was man Schwarz auf Weiß besitze, könne man getrost nach Hause tragen. In diesem Sinne lesbar sind die Bilder, „Bücher“ und Installationen Kiefers nicht. Sie sind nicht definitiv, sondern experimentell. Bereits seit 1969 hat Kiefer neben den gewaltigen Bleifolianten „Bücher“ geschaffen, bestehend aus Fotografien, Bleiseiten, getrockneten Pflanzen, Glas, Porzellan, Tapete, Kreide, Sand, Draht etc. Lange, sagt er, habe er geschwankt zwischen dem Beruf des Schriftstellers und dem des Künstlers. Diese Spannung habe ihn stets begleitet. Anlaß zu seinem Schaffen sei ihm oft der „Schock“, den ihm bestimmte Texte bereiten. Doch Kiefer ist kein Illustrator seiner Lektüren, sondern macht sie sich zum Material. Sein Werk gleicht experimentellen Essays, in denen sich ganze Bibliotheken verdichten und Epochen durch „Überschreibungen“ aufgehoben werden. Vielleicht ist Kiefers Interesse am Buch nicht so sehr bibliophil. Entspricht nicht das Buch einem Raum? Gegen die von Duchamp vollzogene Aufhebung des Unterschieds zwischen Kunst und Leben setzt Kiefer seit langem den eminenten Raum, der den Kosmos seiner Kunst von allem übrigen abhebt. Ein Museum ist da nicht Schutzraum genug. Selbst für die letztjährige große Exposition im Pariser Grand Palais errichtete er „Häuser“ für seine Werke. Einen Raum, um nicht zu sagen eine Welt, errichtete Kiefer auch um sein ganzes Schaffen, im französischen Städtchen Barjac in den Cevennen, wo Kiefer auf einem 35 Hektar-Grundstück aus Gebäuden, Containern, Treppen- und Tunnelsystemen ein ganzes labyrinthisches Universum um seine Werke herum schuf, als deren räumliche Entsprechung.
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