Hat es einen Sinn, wenn wir, die Noch-nicht-Toten, erinnern an für immer Verschwundene? Sie werden aus ihrem dunklen Nirgendwo uns weder Fragen stellen noch Antworten geben, werden unsere Nachrufe nicht mit Beifall oder Tadel bedenken. Braucht es da eine Ansammlung von Vermutungen und Fragezeichen?
Claus Sommerhage, damals Gastprofessor am Germanistischen Institut der estnischen Universität Tartu (als es noch Dorpat hieß, ein baltendeutsches Klein-Athen des Nordens), begegnete ich 1994 zum ersten Mal, auf einer meiner Lesereisen nach Estland. Der Nachruf der Universität Tartu nannte ihn 2003 zu Recht eine „strahlende, energische, geistreiche und kompetente Lehrkraft“, einen „lebensfrohen und herzlichen Menschen“.
Es war ein Trauerspiel, daß die Bonner Universität, auf irgendwelche Richtlinien pochend, keinerlei Gedenkveranstaltung organisierte, da der Tote ja nur außerplanmäßiger Professor war – und dies, obwohl auch die Traueranzeige des Germanistischen Seminars ihm bescheinigte, er sei der Bonner Universität „nach seiner Promotion 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als Privatdozent und Lehrstuhlvertreter eng verbunden“ gewesen. Wie unbeabsichtigte Realsatire wirkt es, wenn dieselbe Anzeige von ihm als einem „inspirierenden jüngeren Kollegen“ spricht. Ein 52jähriger, den man als eine Art Hilfsprofessor jahrelang verschlissen hat, ist ein „jüngerer Kollege“?!
Ellbogenkräfte fehlten ihm
1982 hatte Claus Sommerhage bei Peter Pütz, dem er zeitlebens verbunden blieb (Pütz starb ebenfalls 2003), zum Thema „Eros und Poiesis. Über das Erotische im Werk Thomas Manns“ promoviert. Seine Habilitationsschrift „Romantische Aporien. Zur Kontinuität des Romantischen bei Novalis, Eichendorff, Hofmannsthal und Handke“ erschien 1993 in Paderborn – nicht allein in ihrem Umfang von 420 Seiten, sondern vor allem in ihrem geistigen Zuschnitt, ihrem unkonventionellen Stil und ihren eigenwilligen Überlegungen ein großes Buch.
Aber Ellbogenkräfte, Klüngelkünste, die Fähigkeit des Surfens in Beziehungsnetzwerken und jene endlos lange Publikationsliste voller Belanglosigkeiten und Gefälligkeitsarbeiten, die den typischen bundesdeutschen Karrieremacher auszeichnet, fehlten ihm, und so blieb ihm die Chance verwehrt, sich von dem festen Fundament eines deutschen Lehrstuhlinhabers oder gar Institutsleiters aus einen Namen in der Germanistik zu machen.
Claus Sommerhage und ich blieben einander halb unbekannte nähere Bekannte. Wir wurden keine Freunde – Unterschiede und Gegensätze hielten uns wechselseitig auf Distanz. Bei aller Wertschätzung für den anderen, wie sie sich etwa in der von Claus Sommerhage verfaßten Einleitung meines philosophisch-aphoristischen Buches „Begrüßung eines Endes“ (Freiburg im Breisgau 2003) ausdrückte, bei aller Übereinstimmung in politischen und literarischen Positionen kamen wir über die Duz-Bekanntschaft nicht hinaus. Kennzeichnend dafür war, daß ich erst mit Verspätung von seinem Tod erfuhr. Mein Buch mit seinem Vorwort war gerade gedruckt, als ich die Nachricht erhielt – bei einem Anruf in Estland von seinem kleinen Sohn: „Kann ich Deinen Vater sprechen?“ „Mein Vater ist tot.“
Bücher haben ihre Schicksale
Als ich das letzte Mal mit ihm telefonierte, wußte er schon von seiner Erkrankung an Nierenkrebs. Er sagte, der Titel des Buches passe nun voll und ganz auf ihn – er müsse jetzt sein Ende begrüßen. Bekanntlich haben Bücher ihre Schicksale, aber dies ist ein besonders schwarzes. Als ich Jahre zuvor den Titel auswählte, hatte ich an das Ende einer geschichtlichen Epoche gedacht – und nun wurde daraus das Ende eines Menschen, der noch so weit entfernt war von seinen Lebenszielen.
1992 war Claus Sommerhage nach Estland gegangen – noch einmal ein Neuanfang, noch einmal ein Aufbruch zu unbekannten Horizonten. Alles begann gut – schon bald hatte er seine Frau, eine estnische Ärztin, gefunden, hatte einen Freundeskreis um sich geschart, dann die Heirat, die Einrichtung des Hauses, die Geburt des Sohnes. Vielfältige positive Resonanzen von Studenten und den einheimischen Kulturinstitutionen erreichten ihn, er initiierte und organisierte erfolgreiche wissenschaftliche Projekte wie die seit 1995 jährlich durchgeführte Estnisch-Deutsche Akademische Woche oder die internationale Edzard-Schaper–Konferenz 1997, wie die Herausgabe des Jahrbuchs „Triangulum“ – weiterhin das zentrale Organ für die Germanisten der drei baltischen Republiken.
Daneben widmete er sich der Mitarbeit im Vorstand des Deutschen Kulturinstituts und in der Estnischen Goethe-Gesellschaft, beteiligte sich an humanitären Aktivitäten und verfolgte zahlreiche letztlich doch nicht zu verwirklichende Ideen wie die Gründung eines lokalpolitischen Arbeitskreises für Ökopolitik. Die über vierzig Vorlesungen und Seminare (thematisch weitgefächert, unter anderem auch zum Werk Sigmund Freuds), die er in Tartu hielt, das maßgeblich von ihm mitentwickelte Lehrprogramm für Neuere Deutsche Literatur, die von ihm betreuten Magisterarbeiten und Dissertationen – all das bedeutete viel für die Wiedergeburt der von den Russen bewußt auf Null gebrachten Germanistik in Estland.
Unschuldige Sicht der Dinge
Sommerhage hatte sehr schnell die Landessprache gelernt, er setzte sich mit allen Kräften für die Belange Estlands ein – und glaubte in seiner geradezu unschuldigen Sicht der Dinge, er sei voll und ganz akzeptiert und integriert. Um so schlimmer traf es ihn, daß manche estnischen Freunde sich gegen ihn stellten, daß er von einigen nicht ganz einflußlosen Personen als eine Art neokolonialistischer Eindringling behandelt wurde. Im Hinblick auf seine Motive und sein untadeliges Verhalten war dies vollkommen unberechtigt – aber unbeabsichtigt lieferte er durch psychologische Fehleinschätzungen und zielsicheres Treffen neuralgischer Tabu-Zonen manche Anlässe und Vorwände für Mißverständnisse und Konfrontationen.
Auch mit solchen Enttäuschungen hatte es zu tun, daß Claus Sommerhage im Jahr 2000 nach Bonn zurückkehrte, dort eine außerplanmäßige Professur für Neuere Deutsche Literatur annahm und die Familie nachholte. Aber erneut erfüllte die Bundesprovinzstadt seine durchaus bescheidenen Träume und Hoffnungen nicht, und so kehrte er im Sommer 2002 an die Universität Tartu zurück, nicht zuletzt um sein dortiges wissenschaftlich-pädagogisches Aufbauwerk durch neue Krisen und Bedrohungen hindurchzuführen.
Im Herbst 2002 erfuhr er von seiner Krankheit, von den Metastasen. Seit dem November konnte er nicht mehr schreiben. Noch über ein halbes Jahr kämpfte er gegen den Tod an, litt fürchterliche Schmerzen, wollte zeitweise alles Schriftliche – vor allem die Tagebücher – vernichten und entschied sich dann doch dafür, daß alles erhalten blieb, für wen auch immer.
Seine besten Texte haben direkt mit der deutschen Romantik zu tun, ohne diese aber sklavisch zu referieren und zu repetieren. Im Umfang eher kleine, in ihrer Tiefe, Dichte und Formvollendung aber große und großartige Meisterwerke sind sein Buch „Caspar David Friedrich. Zum Portrait des Malers als Romantiker“ (Paderborn 1993) und „Kleist in Estland“, 1993 in der Zeitschrift Akadeemia auf deutsch und in der estnischen Übersetzung durch Mari Tarvas erschienen – halb Erzählung, halb Essay, halb Rückblick auf den Herrn K. und seine Zeit, halb Bericht über die Jetztzeit eines Fremden in einem fremden kleinen Land. Novalis, die Brüder Schlegel, Caspar David Friedrich – das waren für ihn Vorbilder und Zentralgestirne, aber auch der verschämte Neuromantiker Thomas Mann.
Kein Antimodernist, kein Weltflüchter
Claus Sommerhage war kein Antimodernist, kein Weltflüchter. Er war in vieler Hinsicht ein Achtundsechziger, einer, der global zu denken und enge nationale Schranken zu überwinden versuchte, ein Antiautoritärer – wie alle Antiautoritären jener Zeit in der Gefahr, unversehens im seichten Bourgeois-Liberalismus zu landen, also bei dem gemeinsamen Urgrund, aus dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Europa sowohl der historische Anarchismus als auch die Laisser-faire-Ideologien der Marktgläubigen ihren Anfang nahmen.
Daß er diesem zeit(un)geistigen Sumpf entging, lag nicht zuletzt an seiner unbedingten intellektuellen Ehrlichkeit und seiner Offenheit für Neues und unerwünschte Wahrheiten, die ihn etwa dazu brachte, in Estland die Bedeutung der nationalen Identität und eines nationalen (zugleich aber nicht-chauvinistischen) Selbstbewußtseins zu begreifen. Gerade weil er so tief begeistert war für die große Zeit der Frühromantik, jene „wunderliche ahndungsvolle Zeit“ (Henrik Steffens), hatte er deren tiefste Sehnsucht, den Kern ihres Lebensgefühls, in sich aufgenommen, die „Apotheose der Zukunft“ (Novalis), das Zu-sich-Finden und Erlöst-Werden der Menschheit.
So scharf, gelegentlich durchaus sarkastisch, er im Gespräch die Zustände geißeln konnte – er wurde nie zynisch und überließ sich nie einem reaktionären Pessimismus, der aus der vorgeblichen Unabänderlichkeit der Mißstände die bequeme Rechtfertigung des eigenen Nichtstuns und bedingungsloser Anpasserei ableitet.
Kritische Scheidestoffe der Aufklärung
Seine Hoffnung auf erneute, erneuerte „schöne glänzende Zeiten“ (Novalis) hatte nicht den geradezu gewollt naiven Zug der Jenaer Frühromantik, sie war geläutert durch die kritischen Scheidestoffe der Aufklärung und der Psychoanalyse, aber sie blieb ihm bis zuletzt, und sie ist nicht mit ihm begraben worden. „Es ist eine Lücke entstanden, die nur die Zeit langsam auszufüllen vermag“, heißt es im Nachruf der Universität Tartu auf Claus Sommerhage. Mit derselben Berechtigung könnte man sagen, daß wir in Claus Sommerhage jemand verloren haben, den es so nicht wieder geben wird. Sicher, die Friedhöfe liegen voll mit unersetzlichen Menschen, aber das ist es eben: Jeder ist zu ersetzen, nur bleibt Ersatz Ersatz.