Über Rudi Dutschke, den charismatischen Berliner „Studentenführer“, ist bereits eine Menge geschrieben und gesagt worden. Doch kaum jemand stand diesem sprachgewaltigen Agitator, der auf viele wie ein Verkünder, Seher oder Prophet wirkte, so nahe wie Bernd Rabehl. Beide verband eine tiefe Freundschaft, die weit über das gemeinsame politische Ziel und Engagement hinausging. In der Reihe „Zeitzeugen im Dialog“ ist nun ein Geschichtshörbuch mit Zwischentexten von Eva Garg und Matthias Ponnier erschienen, in dem Rabehl noch einmal die Stationen dieser Freundschaft beleuchtet und dabei interessante Einblicke in das Denken Dutschkes gewährt, aber auch die ambivalente Persönlichkeitsstruktur dieses deutschen Revolutionärs erklärt. Als Vierzehnjähriger erlebt der in Rathenow geborene Rabehl den Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. Die brutale Niederschlagung der mitteldeutschen Freiheitsbewegung durch sowjetische Panzer prägt ihn ebenso wie das tatenlose Zuschauen des Westens. Noch vor dem Mauerbau geht er nach West-Berlin, wo er auf den ebenfalls aus der DDR stammenden Rudi Dutschke trifft. Die Einschätzung, daß die russische Revolution von 1918 zur Diktatur einer neuen bürokratischen Klasse deformiert ist, verbindet die beiden DDR-„Abhauer“. Auf der Suche nach politischen Verbündeten treffen sie auf Herbert Nagel, Frank Böckelmann und Dieter Kunzelmann, Mitglieder der „Subversiven Aktion“, die durch politische Provokationen auf sich aufmerksam macht. In nächtelangen Diskussionen träumt Dutschke vom „langen Marsch durch die bestehenden Institutionen“ und hofft, daß die studentischen Revolutionäre nicht allein bleiben, sondern die Arbeiter sich mit ihnen solidarisieren würden. Kunzelmann verweist hingegen auf das durch den Verrat der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften bereits völlig korrumpierte und verbürgerlichte „Proletariat“. Überzeugen kann man sich gegenseitig nicht. Wolfgang Abendroth und seine „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Theodor W. Adornos Schriften über die deutsche Tradition der Aufklärung, aber auch Bakunins radikale Religionskritik gehören zum theoretischen Gepäck der studentischen Revolutionäre im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), der schon bald zum Katalysator der 68er-Bewegung wird. Dutschke avanciert zum informellen „Führer“ der Organisation, die selbst die „antiautoritäre Revolte“ propagiert. Das Führertum der Intellektualität als „progressive Elite“ wird jedoch auch von ihm durchaus bejaht. Von Jürgen Habermas als „Linksfaschist“ denunziert, rechnet Rudi mit sozialen Unruhen in der DDR, die mit der Befreiung der beiden deutschen Staaten vom Hegemonieanspruch der Supermächte USA und UdSSR enden könnten. Den Zerfall der Sowjetunion sieht er noch vor dem Jahr 2000. Über die geheimdienstliche Tätigkeit der diversen in- und ausländischen Dienste im SDS und anderen Gruppen der APO macht er sich keine Illusionen. Tatsächlich hatte Dutschkes Denken viele Facetten, er wirkte über seine Ausstrahlungskraft, und es war seine feste Überzeugung, daß die scheinbar stabilen Gesellschaften im Westen und im Osten sich revolutionieren ließen und schließlich überall eine „bewußte Produzenten-Demokratie“ entstehen würde. Er konnte mitreißen, weil Denken und Existenz bei ihm eine Einheit bildeten, und selbst wenn er eklektisch zitierte und seine Sätze sang, wagte kaum jemand Zweifel anzumelden. Er war die Verkörperung der protestantischen Ethik, jeglicher Hedonismus schien ihm fremd. Im halbwegs demokratischen Bundesvorstand in Frankfurt und bei den unterschiedlichen SDS-Gruppen galten seine (und Rabehls) nationalrevolutionären Vorstellungen hingegen teilweise als „verstiegen“. Der DKP-nahe Marburger SDS um den auch später unrühmlich hervorgetretenen Hannes Heer forderte auf der 22. Delegiertenkonferenz im September 1967 gar seinen Ausschluß aus dem Verband. Das Attentat auf Dutschke am Gründonnerstag 1968 deckte auch den Bruch zu, der zwischen dem Wissenschaftler, dem Revolutionär und dem Ehemann und Familienvater bestand. Von dem Attentat erholte er sich indes nie wieder. Auf der Strecke bleiben dabei seine sozial- und nationalrevolutionären Visionen und letztlich auch sein Ringen um die Gründung einer Grünen-Partei, in der sowohl antistalinistische Linke, die sich vom Gulag, als auch antinationalsozialistische Rechte, die sich von Auschwitz distanzieren, ihren Platz haben sollten. So hatte er noch 1976/77 in Klaus-Rainer Röhls Zeitschrift Das da — Avanti freimütig mit Nationalrevolutionären wie Wolfgang Strauß und Henning Eichberg diskutiert. Bernd Rabehls Fazit fällt dann eher düster aus. Die politische Entwicklung Deutschlands, fremdbestimmt und überfremdet, gibt keinerlei Anlaß zur Hoffnung auf eine grundlegende Änderung. Und ein neuer Rudi Dutschke ist weit und breit nicht in Sicht. Bernd Rabehl: Mein Freund Rudi Dutschke. Die unbekannten Seiten eines deutschen Revolutionärs. Doppel-Audio-CD, Polar Film, Gescher 2008, Laufzeit: 156 Minuten