Eine der großen Skandalgeschichten der Bundeswehr war die „Kießling-Affäre“ zu Beginn des Jahres 1984. Um ein Haar hätte sie den damaligen Verteidigungsminister Manfred Wörner das Amt gekostet und den zu Unrecht verdächtigten General Günter Kießling die Ehre. Wie die Affäre endete, ist bekannt. Der Verdacht gegen Kießling, homosexuell und damit ein Sicherheitsrisiko zu sein, wurde fallengelassen. Der für die Bundeswehr, insbesondere für den Militärischen Abwehrdienst (MAD) entstandene Schaden aber war enorm. Die eigentliche Katastrophe aber blieb damals unentdeckt: Der stellvertretende Amtschef des MAD in den Jahren 1983 und 1984, Oberst Joachim Krase, war seit 1970 Agent des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Er kontrollierte den Panzerschrank, in dem die Verdächtigungen lagerten. 1984 wurde er in den Ruhestand versetzt, 1988 verstarb er — unerkannt. So ist bis heute unbekannt geblieben, ob er die Affäre eingefädelt hat. Erst 1990 wurde er anhand von Stasi-Unterlagen enttarnt. Seit 1982 war Oberst Jürgen Rei-chardt Sprecher von Verteidigungsminister Wörner. Über das, was er vor 24 Jahren aus nächster Nähe erlebte, hat er nun ein Buch vorgelegt. Es ist die detailreichste und präziseste Darstellung, die von diesem Ereignis vorliegt, und es ist zugleich mehr: Reichardt vermittelt Einsichten in Mentalität, Geisteshaltung und Alltag eines Offiziers und in die Wirklichkeit seines Arbeitsplatzes, des Verteidigungsministeriums. Dazu gehören Begegnungen und Erlebnisse, die zu Charakterisierungen von Generalen und Politikern führen, die damals von Bedeutung waren. Da begegnen wir den späteren Verteidigungsministern Volker Rühe und Rupert Scholz, deren Bild ebensowenig schmeichelhaft ausfällt wie das der Generale a. D. Gerd Schmückle und Gert Bastian. Um so positiver gedenkt Reichardt des ehemaligen Heeresinspekteurs Horst Hildebrandt und dessen Chef des Stabes, Alexander Frevert-Niedermein. Gleiches gilt für seine Erinnerungen an die Rollen, die der damalige Parlamentarische Staatssekretär Peter Kurt Würzbach, sein beamteter Kollege Lothar Rühl und Wörners Alter ego, der damalige Leiter Planungsstab Hans Rühle, spielten. Minutiös schildert er die Intrigen, mit denen der damalige Staatssekretär Ludwig-Holger Pfahls versuchte, sich zum eigentlichen Herrn im Ministerium zu machen. Kernstück des Buches aber ist die tagebuchartige Beschreibung der Affäre Kießling vom öffentlichen Bekanntwerden in den ersten Januartagen bis hin zur Pressekonferenz am 1. Februar 1984, als Bundeskanzler Kohl das Ende der Affäre mitteilen konnte. Was Wörner — an dessen bis heute andauernder Verehrung der Autor keinen Zweifel aufkommen läßt — wirklich auszeichnete, war seine Fähigkeit, die politische Dimension von militärischem Handeln zutreffend zu bewerten. Davon verrät der Fall Kießling/Wörner freilich nichts. Deren Milieu war nicht seine Welt. Aber Reichardt erzählt uns eine Episode, die den wirklichen Wörner zeigt: Am Rand einer Sitzung der Nuklearen Planungsgruppe in Portugal im März 1983 informierte ihn sein amerikanischer Kollege Caspar Weinberger nachts davon, daß Präsident Reagan am nächsten Tag die „Strategic defense initiative“, besser bekannt unter dem Kürzel „SDI“, öffentlich bekanntmachen werde. Amerika sollte vor anfliegenden Atomraketen geschützt und unverwundbar gemacht werden. Als Wörner am nächsten Morgen kurz vor sechs seine Mitarbeiter zum Frühstück traf, informierte er sie über das Projekt und seine enormen Kosten. Bereits der erste Entwicklungsabschnitt übertraf mit 25 Milliarden Dollar den Umfang des gesamten deutschen Verteidigungshaushalts. Reagan, so fügte er hinzu, habe Moskau bereits angeboten, ihnen das System später zum Kauf anzubieten. „Ich mag wohl etwas skeptisch dreingeschaut haben“, berichtet Reichardt weiter, „plötzlich schüttelte mich Wörner an den Schultern. Junge, verstehst Du, rief er, wißt Ihr was das heißt? Wenn die Vereinigten Staaten eine solche Anstrengung ankündigen, dann sind sie doch von der technischen Machbarkeit überzeugt. Sie können das auch bezahlen. Aber nur sie! Was heißt das für die Russen? Erst haben sie sich mit ihren gewaltigen Panzerarmeen völlig übernommen — das haben wir mit den Atomwaffen zunichte gemacht. Dann haben sie mit aller Macht versucht, die amerikanischen Kernwaffen durch die garantierte Fähigkeit zum Gegenschlag zu neutralisieren. Nun wollen sie mit ihren SS-20-Raketen erreichen, was mit den Panzerarmeen nicht gelang, nämlich: Uns unter Kontrolle zu bringen, selbst aber unverwundbar zu bleiben. Mit ungeheuren Kosten und Opfern. — Und nun? Nun kommt dieser Präsident, den die Schlafmützen bei uns immer noch nicht ernst nehmen, und macht Amerika unverwundbar. Versteht Ihr? Damit kapiert doch jeder dort drüben: Wir haben uns vergeblich ruiniert! Wir sind verwundbar, der Westen nicht mehr. Alles umsonst! Aus! Er hatte sich förmlich in Rage geredet, während wir betreten an unserem portugiesischen Frühstück mümmelten. Denn das ist doch klar: Die können nicht mehr mithalten. Die sind fertig. Aus. Verloren! In zehn Jahren, wenn die Amis SDI haben, sind die Sowjets am Ende. Die Sache ist gelaufen!“ An diese Begebenheit müsse er immer wieder denken, wenn beteuert werde, „niemand“ habe diese Entwicklung voraussehen können. Dieser „Niemand“ hieß Wörner. Wer ihn kannte und diese Zeit mit ihm erlebt hat, begreift die trauernde Begeisterung, die aus Reichardts Erinnerungen spricht. Es ist eine Hommage an einen Mann, der mitreißen und führen konnte. Jürgen Reichardt: Hardthöhe Bonn — Im Strudel einer Affäre. Osning Verlag, Werther 2008, gebunden, 184 Seiten, 19,60 Euro Foto: Verteidigungsminister Wörner (r.) bei Verabschiedung General Kießlings (M.), 26. März 1984: Verdächtigungen von Stasi lanciert?