Die aus dem Struwwelpeter-Buch empfangenen Kindheitseindrücke bleiben unauslöschlich. Die Dramen um den Suppenkaspar, der nach fünftägiger Nahrungsverweigerung verhungert, um Paulinchen, das beim Hantieren mit Streichhölzern in Flammen aufgeht, oder um den Daumenlutscher Konrad, dem der Schneider „klipp und klapp“ die Daumen absäbelt, verweisen auf eine Lebenswirklichkeit voller Grausamkeit, Schuld und tödlicher Irrtümer. Die lehrhaft-einprägsamen Geschichten haben immer wieder zu Parodien angeregt, sogar in der ausländischen Kriegspropaganda. 1941 verfaßten die Brüder Robert und Philipp Spence eine englische Version, in der die NS-Führer zu „Nazi Boys“, Ribbentrop zu „Ribby“ und Goebbels zu „Gobby“ reduziert werden. Der „Führer“ fungiert als „Struwwelhitler“ bzw. „Zappel-Adolf“ und Luftwaffen-Chef Göring (analog zum „Fliegenden Robert) als „Flying Hermann“. Ein kleiner Berliner Verlag hat dieses Buch in einer zweisprachigen Auflage neu herausgebracht. In seiner Einleitung meint Joachim Fest, es stelle „einen Versuch des Jahres 1941 (dar), als England dem übermächtigen, nahezu ganz Europa beherrschenden Reich allein gegenüberstehend, Hitler und sein Regime der Lächerlichkeit preiszugeben“. Tatsächlich widerspiegelt der „Struwwelhitler“ die Machtverhältnisse und die psychologische Situation jener Zeit. Freilich lassen sie sich auch ganz anders deuten. In der ersten Geschichte sehen wir einen auf Goldsäcken hockenden Strippenzieher mit den typischen Accessoires des Kapitalisten – Schmerbauch, Zigarre, Zylinder -, der Hitler und die Wehrmacht als Marionetten bewegt. Dergleichen kennt man aus Karikaturen über die „jüdische Verschwörung“. Das Bild macht deutlich, daß Englands Kampf auf mehr abzielte als auf die Beseitigung Hitlers. „Die Geschichte von Hermann dem Flieger“ reflektiert das sich abzeichnende Fiasko der deutschen Luftwaffe und Luftabwehr („Luftwaffe, müßt ihr versteh’n/ war danach nicht mehr zu sehn“) gegenüber der Royal Airforce. Mussolini wird als „Musso-Guck-in-die Luft“ verspottet, der ins kalte Wasser fällt („Seine Flotte, eins, zwei, drei / sank darauf so schnell wie Blei“), und als Hasenjäger, der selber zum Gejagten wird. Im Oktober 1940 hatte er Griechenland angegriffen und sich eine blutige Nase geholt. „Er schreit und will sich gern verkriechen:/ Hilf, Führer, hilf! Die Griechen! Griechen!“ Die italienischen Ambitionen kamen den Briten durchaus gelegen. Um den Verbündeten zu retten, griff Hitler im April 1941 ein und verzettelte seine Kräfte weiter. „Nur selten in der Geschichte menschlichen Konfliktes hat man argumentiert, daß der Eintritt eines zusätzlichen Feindes in den Krieg dem Gegner mehr schadete als einem selbst; aber Mussolinis Italien war, in dieser Beziehung zumindest, einzigartig.“ So der englische Historiker Paul Kennedy. Der präzise Erscheinungstermin des Buches ist nicht angegeben, aber es gibt Hinweise. So die „Geschichte vom fliegenden Rudolf“, die den Schottland-Flug des Führerstellvertreters Heß am 10. Mai 1941 thematisiert. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion lag unmittelbar in der Luft oder hatte gerade stattgefunden. Stalin erscheint als riesiger Nikolaus, der die kleinen Nazi-Buben in ein Faß mit roter Tinte taucht. Zwar trägt er noch eine Hakenkreuzbinde – ein Seitenhieb gegen seinen Pakt mit Hitler -, aber das Ende dieser Liaison ist den Karikaturisten genauso unzweifelhaft wie der Ausgang des Krieges zwischen Deutschland und Rußland, das über mehr als doppelt so viele Einwohner, über riesige Raumreserven und eine Flugzeugproduktion verfügte, die 1938 bereits die deutsche überholt hatte. Manchmal wünscht man sich, die Übersetzung aus dem Englischen hätte sich enger an den deutschen Urtext angelehnt. In der Geschichte „Vom grausamen Adolf“, der einen Hund mit der Peitsche schlägt, bis dieser zurückbeißt, heißt es umständlich: „Ins Bett zwang Adolf diese Not/ Der Doktor mit dem Finge droht‘ / und sagt ihm an den bald’gen Tod, / er gab ihm bitt’re Medizin, /und wünschte, Adolf schied bald hin.“ Bildhafter wäre diese Fassung gewesen: „Ins Bett muß Adolf nun hinein,/ litt vielen Schmerz an seinem Bein./ Und der Herr Doktor steht dabei/ und gibt ihm bittre Arzenei/ und – wünscht sein Ende sich herbei!“ Aus der Zeile: „He (Adolf) made a purge to serve his end“, macht der Übersetzer: „(Adolf) verfolgte seine Weltmachtziele“. Das ist eine Verfälschung der Vorlage, in der es um eine „Säuberung“ im Innern gegen Röhm & Co. am 30. Juni 1934 geht. Paulinchen wird zum blonden Gretchen mit Hakenkreuzbinde, das mit Kanonen spielt. Ihre beiden Katzen (im Urtext heißen sie Minz und Maunz) tragen Schärpen mit dem Union Jack und dem Sternenbanner – des britisch-amerikanischen Militärbündnisses ist man sich längst sicher – und hocken schließlich weinend vor Gretchens Aschehaufen. Zwei Krokodile wären passender gewesen. Mit Blick auf den Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 hielt Churchill fest: „Hitlers Schicksal war besiegelt. Mussolinis Schicksal war besiegelt. (…) Der Rest war lediglich die richtige Anwendung überwältigender Stärke.“ Genau diese Überzeugung spricht aus den Geschichten. Von englischer Verlassenheit keine Spur. Foto: „Struwwelhitler“: Britische Kriegspropaganda „Struwwelhitler“. A Nazi Stry book by Dr. Schrecklichkeit. Eine Parodie des Original-Struwwelpeter von Robert und Philip Spence. Autorenhaus Verlag, Berlin 2005, 26 Seiten 10 Euro
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