Die Geschichte nach Kriegsende aus Deutschland geraubter Beutekunst ist Epos, Drama, Trauma und Pein zugleich, doch zumindest lassen sich Teilerfolge benennen. Hierzu zählt die Rückführung des Archivs der Berliner Sing-Akademie. 1943 ins schlesische Schloß Ullersdorf ausgelagert, galten die rund 5.000 Werke (darunter unzählige Autographe) als verschollen, bis sie 1999 in der Ukraine auftauchten. Der Umstand, daß die Archivalien als Eigentum einer privatrechtlich organisierten Konzertvereinigung angesehen wurden, ermöglichte 2001 die rasche Rückgabe. Das Archiv barg manchen Schatz. Zum Beispiel große Teile einer noch länger als das Archiv verloren geglaubten Oper von Antonio Vivaldi – es handelt sich um den 1733 in Venedig uraufgeführten „Montezuma“. Um eine in fast jeder Hinsicht glanzvolle Ersteineinspielung hat sich Alan Curtis jüngst verdient gemacht. Ersteinspielung? Tatsächlich brachte Curtis‘ Kollege Jean-Claude Malgoire bereits 1992 einen „Montezuma“ in die Plattenläden. Neben wenigen Anhaltspunkten zur originalen Musik konnte damals aber nur das erhaltene Textbuch (eine exotisch schräge Geschichte über die Eroberung Mexikos) Orientierung bieten: Malgoire mußte bei dessen „Vertonung“ auf passende Musik aus anderen Werken Vivaldis zurückgreifen. Diese Praxis hat durchaus ihren Reiz – denn im Barock war es nicht unüblich, neue Opern aus alten Werken (es mußten keineswegs des Komponisten eigene sein) zusammenzuzimmern. Als Pasticcio – quasi eine musikalisch-kulinarische Pastete – gingen solche Schöpfungen in die Musikgeschichte ein. Und jetzt? Alles echter Vivaldi? Wieder falsch, denn die Berliner Fundsache enthält große Lücken. Von den drei Akten liegt nur der zweite vollständig vor. Den Rest der Oper besorgte der Vivaldi-Kenner Alessandro Ciccolini, der aus Skizzen und Fragmenten, mittels Entlehnungen und eigener Schöpferkraft die Partitur komplettierte. In einer Zeit, in der solche Vervollständigungen oft nur als „ehrlich“ gelten, wenn sie die Brüche zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Original und Nacharbeitung hörbar machen (wie etwa das Puccinis „Turandot“ vollendende neue Finale von Luciano Berio), nimmt sich Ciccolinis saftiger Griff in die venezianische Komponistenkiste musikpolitisch köstlich unkorrekt aus. Enthielte das Beiheft nicht detaillierte Angaben zur Rekonstruktion, könnte wahrscheinlich kaum ein Ohr unterscheiden, welche Passagen echt, welche nachkomponiert sind. Wie findig und stilsicher der Musikwissenschaftler zu Werke gegangen ist, läßt sich etwa der Arie „L’aquila generosa“ ablauschen, von deren Musikalien nur knapp 48 Takte der Violinstimme erhalten waren, darunter lange Passagen mit vordergründig drögen Tonrepetitionen. Die auf diesem Fragment beruhende Nachschöpfung ist gleichwohl weit davon entfernt, ein akustisches Disneyland zu generieren: Dazu ist Ciccolini selbst zu sehr Künstler – wenngleich ganz im „Dienst“ Vivaldis. Und die Einspielung? Ein Ohrenschmaus. Curtis läßt sein Kammerensemble Il Complesso Barocco etwas ruppiger aufspielen als in seinen jüngeren Händel-Produktionen, setzt aber – dem vokal beweglichen und geschmeidigen Baßbariton Vito Priante als Protagonisten stehen von Alt bis Sopran nur Frauen gegenüber – durchweg auf sinnliche, farblich differenzierte Stimmen. In diesem Ensemble gibt es keine Ausfälle, dafür immer wieder atemberaubende Höhepunkt: Beispielswegen wenn sich die lettische Sopranistin Inga Kalna in der Arie „D’ira e furor armato“ ein koloraturgespicktes Duell mit der Solotrompete liefert, das trotz aller Kürze auf Donizettis „Lucia“ vorauszuweisen scheint – eine wahnsinnig packende Szene.