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Keiner verriet den anderen

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Das Jahr 1999. Storkow in der Mark Brandenburg, fünfzig Kilometer südöstlich von Berlin. Ein Jubiläums-Festakt in der Turnhalle der örtlichen Gesamtschule. Schüler stellen die Geschichte der Schule in Bildern dar. „Wir kamen nicht vor“, vermerkt Dietrich Garstka lakonisch am Ende seines eben erschienenen Buches „Das schweigende Klassenzimmer“. Ein ehemaliger Lehrer bedankt sich für die „mitreißende Vorstellung der Schüler“ und schwafelt von Frieden und Völkerfreundschaft – abgedroschene Phrasen auch zu DDR-Zeiten. „Bruchlose Kontinuität von vierzig Jahren“, konstatiert der Autor. Der Redner aus dem Jahr 1999 hatte 1956 in der Oberschule, das bürgerliche Gymnasium war abgeschafft, als Geschichtslehrer sowie als FDJ- und Parteisekretär in Personalunion fungiert – und funktioniert. Vor der Veranstaltung über dreißig Jahre später teilte der Grauhaarige seinem ehemaligen Schüler Garstka überfallartig mit, daß er damals nicht der Verräter gewesen sei. Allein deshalb und weil sie eben nicht vorkamen, hätte dieses Buch geschrieben werden müssen – und weil dies fast zehn Jahre nach dem Kollaps des Teilstaates und 43 Jahre nach den Ereignissen geschah, die das Städtchen wie ein Unwetter trafen und im Westen Schlagzeilen machten. Ende Oktober 1956. Die Ereignisse in Ungarn haben ihren tragischen Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Storkower Primaner – ein ebenfalls verbannter Begriff – verfolgen über den verbotenen amerikanischen Sender RIAS das Geschehen. Reportagen und Interviews, wie sie exemplarisch eingefügt sind, mußten damals als Informationsquelle genügen. Eine Falschmeldung der Westpresse, das Fußballidol der Schüler, der Mannschaftskapitän der ungarischen Nationalmannschaft Ferenc Puskás, sei bei den Auseinandersetzungen umgekommen, sowie ein Aufruf des RIAS, in einer Schweigeminute der Toten zu gedenken, veranlaßt die 17- bis 18jährigen spontan, fünf Minuten schweigend den Unterricht zu boykottieren. Der junge Lehrer ist jener Parteimensch, von dem die Rede war. Dieser aus heutiger Sicht eher unspektakuläre Protest sollte Wendepunkt im Leben der beteiligten Schüler, ebenso mancher Lehrer und vieler Eltern werden. Die Schweigeminuten werden zur konterrevolutionären Aktion aufgebauscht. Die „Parteiapparate“ auf Kreis- und Bezirksebene rotieren, die Staatssicherheit klinkt sich ein. Sogar der SED-Volksbildungsminister Fritz Lange taucht auf, beschimpft unflätig die Schüler und startet einen hinterhältigen Erpressungsversuch: Wenn der Rädelsführer benannt würde, gingen die Schüler straffrei aus, wenn nicht, erfolge die Relegation der ganzen Klasse, ihr Abitur wäre dann passé. Die Schüler widerstehen einzeln und als Klasse. Sie widerstehen auch, weil es einen eigentlichen Anstifter gar nicht gibt. Der Druck wird stärker und perfider, die Klasse fliegt von der Schule; schließlich verabreden sie ihre „Republikflucht“, deren Absicht oder Versuch schon vor dem Mauerbau strafbar waren. Keiner wird erwischt, sie bleiben zusammen und können schließlich nach der Flucht in die Bundesrepublik im Odenwald ihr Abitur ablegen. Garstkas Verdienst ist es, jene Zeit atmosphärisch authentisch aufleben zu lassen: Angst, Heuchelei, politische Schizophrenie, Klassenkampfrhetorik, Ausgrenzung und primitivste Indoktrination sind alltäglich. Die Beteiligten hatten den Einmarsch der Sowjets erlebt, seine Begleiterscheinungen sind noch gegenwärtig. Manche Verwandten sind spurlos in den NKWD-Vernichtungslagern verschwunden, die Entstalinisierung war halbherzig, das Sowjetvolk und seine Führer sind nach wie vor die großen Vorbilder. Kommunisten – „ehrliche“ und Trittbrettfahrer – führen das große Wort, agitieren und denunzieren. Zu letzteren gehört der Storkower Nachkriegsbürgermeister Franz Becker, der sich diesen Posten erschwindelte, indem er seine frühere KPD-Mitgliedschaft nach 1945 erfand. Im Buch agiert er lediglich als arroganter Stasi-Offizier, er war schon aufgestiegen. Stasi-Dokumente geben Aufschluß über die Borniertheit der Verfasser; Parteiverlautbarungen dokumentieren die Hybris der SED-Bonzen, ihren penetranten Unfehlbarkeitsanspruch. Hervorragend differenziert gelingen die Lehrerporträts, der Leser sieht sie quasi vor sich stehen. Bei Schülern und Eltern verliert man ein wenig den Überblick. Auch wäre der Autor womöglich besser beraten gewesen, hätte er – wenn er von sich erzählt – die Ich-Form gewählt. Reflexionsebene und Bericht könnten klarer getrennt sein. Der Stakkato-Stil vor allem im ersten Drittel ist gewöhnungsbedürftig und führt zu Sprachkapriolen („Unsere Lehrer waren wieder geteilt“). Und leider gerät der sich zur blutigen Tragödie entwickelnde Ungarnaufstand aus dem Blickfeld. Zugegeben: Die Schüler, um deren Schicksal es geht, hatten nach der Intervention der Staatsmacht andere Sorgen. Aber eine korrekte Einordnung der Ereignisse darf man schon erwarten. So war der Aufstand am 29. Oktober (dem Tag der Schweigeminuten) noch nicht niedergeschlagen, wie es die Überschrift im Kapitel behauptet. Am 27. Oktober hat Imre Nagy die Anerkennung der Revolution bekanntgegeben, am 30. Oktober bildet er eine Mehrparteienregierung. Erst als Nagy am 1. November 1956 die Neutralität Ungarns erklärt und das Land aus dem Warschauer Pakt austritt, beginnen die Sowjettruppen mit der Niederschlagung des Volksaufstandes, die sich unter beträchtlichen Verlusten bis zum 11. November hinzieht. Auf den letzten Seiten beeindrucken die Berichte, die das Wiedersehen nach vielen Jahren schildern. Teilweise schimmert bei den Beteiligten sogar eine gewisse DDR-Nostalgie durch; die Brüche in den Biographien werden deutlich. Aus dem Stoff könnten mehrere Romane geschrieben werden. Dem Rezensenten drängt sich die Frage auf, ob nicht eine ausschließlich literarische Form der Dramatik der Geschichte gerechter würde und so den emotionalen Zugang für die junge Generation erleichtern würde. Aber diese stellt sich bei allen im Dokumentarischen angesiedelten Genres. Der zeitgeschichtlich Interessierte wird das Buch mit Gewinn lesen, weil der Autor den Zeitgeist jener Jahre zu vermitteln vermag und Auswirkungen von Dogmatismus und Diktatur präzise schildert. Dietrich Garstka: Das schweigende Klassenzimmer. Ullstein Verlag, Berlin 2006, gebunden, 256 Seiten, Abbildungen, 18 Euro

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