Anzeige
Anzeige

Die Stimme derer, die keine hatten

Die Stimme derer, die keine hatten

Die Stimme derer, die keine hatten

 

Die Stimme derer, die keine hatten

Anzeige

Weihnachts-Abo, Weihnachtsbaum, Zeitungen

Sie kam gegen sechs Uhr abends vom Einkauf, parkte ihren Shiguli unweit des Eingangs, nahm zwei Einkaufstüten und betrat noch den Fahrstuhl ihres Hauses, als sie vier Schüsse trafen, drei den Körper, der vierte als Fangschuß den Kopf – Anna Politkowskaja, Rußlands berühmteste Journalistin, war sofort tot. Kaltblütig erschossen. In den Hauptnachrichten am vergangenen Samstag kam die Meldung zwar an erster Stelle, doch größeren Raum nahm die vom russischen Premierminister besuchte Landwirtschaftstechnikausstellung ein.

Unmittelbar nach dem Mord an der regierungskritischen Journalistin zog der russische Generalstaatsanwalt Juri Tschaika das Ermittlungsverfahren an sich. Am Tatort hätten Ermittler eine 9-Millimeter-Pistole vom Typ Makarov gefunden, zitierte die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti die Staatsanwaltschaft. Der flüchtige Täter, ein junger Mann, schwarz gekleidet bis zur Baseballkappe, war offenbar per Auftrag gebucht worden.

Anna Politkowskaja, Mutter zweier Kinder, wurde 48 Jahre alt. Nach ihrem Journalistik-Studium an der Moskauer Universität arbeitete sie zu Sowjetzeiten bei der angesehenen Iswestija, wechselte nach der Wende zur Nesawissimaja Gaseta und von dort zur Nowaja Gaseta, einer kleinen regierungskritischen Zeitung. Zu den Eigentümern des zweimal in der Woche erscheinenden Blattes gehören der russische Unternehmer und Politiker Alexander Lebedjew sowie der frühere sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow.

Für Hinweise auf Politkowskajas Mörder setzte die Nowaja Gaseta 25 Millionen Rubel (knapp 740.000 Euro) aus. "Solange es Nowaja Gaseta gibt, werden ihre Killer nicht ruhig schlafen", versprach die Zeitung, die am Montag auf sechs Seiten ihrer erschossenen Kollegin gedachte. "Sie empfand jede Ungerechtigkeit, gegen wen sie sich auch richtete, als persönliche Herausforderung", schrieb die Zeitung in ihrem Nachruf auf Anna Politkowskaja.

Unterdessen bezeichnete Gorbatschow die Tötung Anna Politkowskajas als "politischen Mord" und "Racheakt". Gegenüber der italienischen Zeitung La Repubblica sagte er, es sei klar, daß man sie "zum Schweigen bringen wollte". Die Tat sei ein "schwerer Schlag für die Pressefreiheit" und für diejenigen, die sich in Rußland für Demokratie einsetzten, so Gorbatschow.

Verurteilt wurde der Mord auch von der Internationalen Journalisten-Föderation (IFJ) mit Sitz in Brüssel. IFJ-Generalsekretär Aidan White erklärte, Politkowskaja sei als eine der Sprecherinnen auf dem Weltkongreß der Föderation im kommenden Jahr in Moskau vorgesehen gewesen. "Wir müssen wissen, wer unsere Kollegin getötet hat und wer den Angriff angeordnet hat", sagte White. Der Generaldirektor des Weltverbandes der Zeitungen, Timothy Balding, erklärte in Paris, die Tat sei die schreckliche Bestätigung dafür, daß Politkowskajas Behauptung, ständig bedroht zu werden, keine Erfindung gewesen sei.

Ebenfalls schockiert zeigte sich der Präsident der Organisation Reporter ohne Grenzen, Robert Ménard. Bei der Einweihung des ersten europäischen Denkmals für getötete Journalisten im französischen Bayeux sagte er unter Bezug auf die Nachrichten von der Ermordung Politkowskajas sowie zweier Mitarbeiter der Deutschen Welle in Afghanistan, dies zeige, wie alltäglich solche Vorkommnisse seien.

Anna Politkowskaja gehörte zu den in westlichen Medien am meisten zitierten Journalistinnen, sie schrieb in den letzten Jahren vor allem über Tschetschenien und Südrußland, ihr Stil war wenig elegant, aber klar und offen. Nur in der letzten Ausgabe der Nowaja fehlt ein Artikel von ihr, wenige Tage zuvor war ihr Vater verunglückt.

Freund und Feind achteten sie bis zuletzt. 2002 hatten die Besetzer des Musical-Theaters "Nordost" – bei der gewaltsamen Befreiung starben alle Geiselnehmer und mehr als hundert Geiseln – sie ausgewählt, Lebensmittel und Wasser in den Innenraum des Theaters zu bringen. Vor zwei Jahren wurde sie – mit dem Flugzeug auf dem Weg nach Beslan – mit Tee leicht vergiftet, von wem und warum, konnte nicht geklärt werden. Doch wer angenommen hatte, sie würde sich von derlei Vorfällen einschüchtern lassen, irrte sich. Ihre letzten Artikel zeigten klar, wie unwirksam und widersprüchlich die russische Kaukasuspolitik blieb.

Sie war die Stimme derjenigen, die keine hatten und nie gehört werden. Einer ihrer letzten Artikel handelte von einem Studenten, der von der Universität weg verhaftet, gefoltert und zu vielen Jahren Haft verurteilt wurde. Selten erregten ihre Texte Widerspruch oder staatliche Dementis, zu offen legte sie dar, wie menschenverachtend die Verhältnisse im Süden Rußlands waren. Sie enthüllte, wie eigennützig die jetzige tschetschenische Regierung operierte, nur oberflächlichen Beobachtern scheint sie Moskauer Interessen zu vertreten – tatsächlich hat der Clan um Ramsan Kadyrow die Russen nur benutzt, um Privatfehden für sich zu entscheiden. Und da in Tschetschenien Blutrache herrscht, kann mit einer derartigen Praxis eigentlich kein Frieden entstehen.

Nie ließ sie sich auf faule Kompromisse ein

Seitdem sie vor einer "Tschetschenisierung" Rußlands warnte – sie berichtete unter anderem unlängst von einem tschetschenischen Überfall auf eine Petersburger Fleischfabrik -, wurde es offenbar zuviel. Als vor Tagen Schüsse auf offener Straße auf sie abgegeben wurden, nahm die Polizei nicht einmal Ermittlungen auf.

Sie wußte immer um die Gefahr, aber anders als die meisten ihrer mehrheitlich männlichen Kollegen hat sie sich nicht gefürchtet oder einen faulen Kompromiß gesucht. Nicht weil sie als Frau vor den muslimischen Rächern geschützt wäre – Frauen sind schon lange kein Tabu mehr für Racheakte, Entführungen und heimtückische Morde. Nein, Anna Politkowskaja hatte einen heute schon altmodisch anmutenden Begriff von demokratischer Öffentlichkeit. Sie wollte die Wahrheit sagen. Dafür hat sie den höchsten Preis bezahlt.

Vermissen werden sie nicht nur die Leser der Nowaja Gaseta, sondern all jene, die sich an sie wandten: Männer, deren Frauen verschwunden waren, Mütter, die ihre Söhne suchten, Frauen, die Gerechtigkeit suchten für ihre erschlagenen Männer – sie fanden Gehör und Öffentlichkeit bei Anna Politkowskaja.

Diese Stimme ist jetzt verstummt, und wenn nicht alles trügt, ist damit die Ära der Pressefreiheit, die in den letzten Jahren schon viele Rückschläge einstecken mußte, endgültig beendet.

Foto: Anna Politkowskaja (1958-2006): Ihr Demokratieverständnis mutete fast altmodisch an

Anzeige
Anzeige

Der nächste Beitrag

ähnliche Themen
Hierfür wurden keine ähnlichen Themen gefunden.
aktuelles