Blödelbarde Stefan Raab machte es möglich: „TV total“-Zuschauer konnten schon am Samstag, dem Abend vor der eigentlichen Wahl, auf ProSieben bei der „Großen TV total Bundestagswahl“ ihre Stimme abgeben. Wählen durfte hier jeder, auch Minderjährige oder Ausländer. Peter Limbourg, Chefredakteur des zur ProSiebenSat.1-Gruppe gehörenden Nachrichtensenders N24, begleitete Raab als „Wahlexperte“ und Co-Moderator durch die Sendung. Limbourg leitete unter anderem vor drei Jahren das erste TV-Duell zwischen Gerhard Schröder und dem damaligen Kanzlerkandidaten der Union, Edmund Stoiber. In Raabs Sendung trafen sich Spitzenpolitiker aller großen Parteien zur letzten Elefantenrunde vor der Bundestagswahl. Zugute kommt ihm dabei ein Vorrecht der Privatsender: Während sich die öffentlich-rechtlichen Sender vor Jahren geeinigt haben, wahlkämpfende Politiker sechs Wochen vor einer Wahl nicht mehr in Unterhaltungsshows einzuladen, dürfen sie im Privatfernsehen bis kurz vor Urnengang auftreten. Franz Müntefering (SPD), Christian Wulff (CDU), Guido Westerwelle (FDP), Jürgen Trittin (Grüne) und Günther Beckstein (CSU) nutzten bei „TV total“ dieses Privileg. Mit der Sendung wollte Raab – Big-Band, Gospel-Chor und leichtbekleidete Damen inklusive – junge Wahlberechtigte motivieren, am nächsten Tag zur Wahl zu gehen. In einer Telefonabstimmung wurden die Ergebnisse für alle 16 Bundesländer ermittelt. Am Ende der Sendung stand die Zusammensetzung des „TV total“-Bundestags fest. Das nicht repräsentative Ergebnis – Rot-Grün hatte die absolute Mehrheit erreicht – sei ein wichtiges und direktes Stimmungsbarometer der jungen Menschen in Deutschland, meinte ProSieben. Zu den vielen Wunderlichkeiten dieser Sendung gehörte auch Raabs Wahlhymne: „Ein Kreuz für Deutschland“. Wahrscheinlich hat er beim Dichten an die Initiative des Kinderschutzbundes „Ein Herz für Kinder“ gedacht. Viel naheliegender ist allerdings eine noch nicht ganz in Vergessenheit geratene Kampagne der NPD, die mit dem Spruch „Ein Herz für Deutschland“ auf sich aufmerksam machte. Von den Peinlichkeiten unmittelbar vor der Wahl zu denen unmittelbar nach der Wahl ist es nicht weit: Bundeskanzler Schröder hat Glück, daß die Stimmen schon vergeben sind. Sein Auftritt am Sonntagabend in der „Berliner Runde“ von ARD und ZDF hätte sich am Ende bitter rächen können. Schröder bezichtigte in der Gesprächsrunde die Moderatoren Hartmann von der Tann und Nikolaus Brender, ihre mediale Macht zu mißbrauchen und gezielte Medienmanipulation gegen ihn zu betreiben. „Ist ja schön, daß Sie mich noch als Bundeskanzler ansprechen (…) Und wissen Sie, was mich besonders freut, wenn ich das noch kurz sagen darf, daß die Menschen in Deutschland sich ihr Recht herausgenommen haben, so zu entscheiden, wie sie wollen, und nicht so zu entscheiden, wie die Medienmacher meinten, sie sollen entscheiden.“ Doch nicht nur das. Wie im Rausch wütete er auch gegen seine Herausfordererin Angela Merkel, die Deutschen hätten in der Kandidatenfrage eindeutig entschieden, eine große Koalition unter ihrer Führung mit seiner sozialdemokratischen Partei werde es nicht geben. Merkel solle sich nichts vormachen, die Wahlergebnisse seien ein klarer Sieg für ihn, Schröder. „Verglichen mit dem, was in dieser Republik geschrieben und gesendet worden ist, gibt es doch einen eindeutigen Verlierer, und das ist nun wirklich Frau Merkel“, so der Kanzler. FDP-Chef Westerwelle verkündete daraufhin um Fassung ringend, Schröder sei nicht mehr ernst zu nehmen. Auch Edmund Stoiber hielt das Verhalten des Bundeskanzlers für „nicht ganz in Ordnung“ und warf ihm Arroganz vor. Während Westerwelle nur vage Spekulationen darüber anstellte, warum der Kanzler derart außer Rand und Band geraten sei – „Ich weiß nicht, was Sie vor der Sendung gemacht haben“ -, hatte der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele, der bekanntlich die Freigabe von Hanf-Anbau fordert, eine ganz andere Vermutung: „Vielleicht wurde das heimlich ja schon durchgesetzt.“ Schröders Weggefährte und Außenminister Joseph Fischer, sonst auch kein Kind von Traurigkeit, geschweige denn guten Manieren, wenn es um öffentlichkeitswirksame Rüpeleien geht, saß plötzlich kerzengerade auf seinem Stuhl und verzog das Gesicht zu einer besorgten Miene. Der noch nüchterne Fischer erkannte, daß Schröder ein Tabu gebrochen hatte, und drängte im Verlauf der Berliner Runde sogar darauf, das Gespräch doch möglichst zu beenden, da „heute abend doch nichts mehr herauskommt“. Peinlich genug, denn offenbar hielt er seinen Kanzler zu diesem Zeitpunkt für nicht ganz bei Sinnen. Sichtlich berauscht prahlte dieser, die Bundestagswahl nicht verloren, sondern gewonnen zu haben, und zwar nicht nur gegen Union und FDP – sondern auch gegen die Journalisten, Demoskopen und Meinungsmacher. Sie alle hätten zugunsten der Union wochenlang gegen die SPD und ihren Kanzler falsche Umfrageergebnisse verbreitet, unsachlich berichtet und es überhaupt mit der Überparteilichkeit nicht gerade genau genommen. So hatten die Fernsehzuschauer und Pressevertreter ihren „Medienkanzler“, der nach eigenen Angaben fünfzehn Bier ohne Ausfälle verkraftet, noch nicht erlebt. Prompt rächte sich ZDF-Chefredakteur Brender mit Geringschätzung gegenüber Schröder: „Ab jetzt nur noch Herr Schröder!“ Dieses Verhalten in der Öffentlichkeit sei eines Bundeskanzlers unwürdig. Die Vorwürfe wies er vehement zurück: „Dies war ein Schlagabtausch zwischen einem Machthaber und einem Vertreter der freien Presse. Der Journalist mußte dabei erklären, daß er und seine Arbeit nicht zum Machtbereich des Politikers zählen.“ Später in der SPD-Parteizentrale müssen Schröder dann selbst Zweifel gekommen sein, ob sein Auftritt das richtige Maß gehalten habe. Unter dem wohlwollenden Gelächter seiner Gäste gab er zu, seine Frau habe sein Verhalten in der „Elefantenrunde“ als „vielleicht ein bißchen zu krawallig“ gerügt. Indirekt entschuldigte er sich sogar und bat um Verständnis für seinen emotionalen Ausbruch. Schon früher hatten Spitzenpolitiker in diesen Runden für Schlagzeilen gesorgt, wie etwa ein sichtlich angetrunkener Franz-Josef Strauß, als er sich aus München zuschalten ließ. Geschadet hat es ihm nicht. Des Kanzlers Medienschelte jedoch erregte öffentlichen Protest des Deutschen Journalistenverbandes. Sein Auftritt sei „skurril“ gewesen, kritisierte der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider in der Netzeitung. In den Feuilletons von FAZ bis taz war man sich einig, daß Schröder alle üblichen Regeln in Politik und Fernsehen gebrochen habe. „Es fehlte plötzlich der von Trägheit und Verwendung von Textbausteinen geprägte Sound der Talk-Shows“, schrieb die taz und an anderer Stelle: „natürlich weiß inzwischen jeder (…), daß Schröder so ist, wie er ist: Ein ziemlich brutaler Kämpfer von ganz unten auf dem Weg nach ganz oben, ein Wadenbeißer aus bildungsfernem Haushalt“. Die Berliner Zeitung stellte gar die Frage, ob er am Abend „ernsthaft verrückt“ gewesen sei. Sicherlich, zu Beginn des Wahlkampfes hatte Schröder einiges an Gemeinheiten von seiten der Medien einstecken müssen, und die Umfrageergebnisse waren alles andere als ermunternd für Rot-Grün, aber dahinter eine Verschwörung zu sehen und es auch noch aller Welt kundzutun, hätte ein Medienkenner wie er nicht nötig gehabt. Doch wer denkt: „Gott sei Dank! Nun ist’s vorbei mit der Übeltäterei“, der wird vom Kanzler sicherlich bald eines Besseren belehrt. Spätestens bei den Koalitionsverhandlungen folgt sein nächster Streich sogleich.