Die letzten Jahre haben zu einem erbitterten Streit über die Rolle der Wehrmacht in der nationalsozialistischen Ära geführt. Daran beteiligt war bekanntlich Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung mit seinen zwei provokanten Ausstellungen, in denen die deutsche Wehrmacht und die in ihr dienenden Soldaten samt und sonders als „Täter“ eines „Vernichtungskriegs“ dargestellt wurden. Der Vorwurf sollte praktisch unterschiedslos alle treffen, wobei mit erkennbarem Eifer auch die Männer des 20. Juli im Visier der Aussteller standen. Neben zahlreichen Fehlern und Unterlassungen litten die Ausstellung und die nachfolgende Diskussion am schweren Mangel der Einseitigkeit: Man hielt es nicht für nötig, Ursachen und Wirkungen abzuwägen. Eingedenk der Tatsache, daß Geschichte nicht im leeren Raum stattfindet, hat Klaus-Jochen Arnold bereits früher auf die Wechselwirkung zwischen sowjetischen Massakern und deutschen Reaktionen verwiesen und angezweifelt, ob Verbrechen, wo sie begangen wurden, „aus eigener Initiative“ geschehen seien. In seiner Dissertation wagt er sich jetzt an den großen Wurf. Den gesamten Zusammenhang zwischen Kriegführung und Radikalisierung während des Rußlandfeldzugs zu untersuchen, ist sein Ziel. Wem bei dieser Aufgabenstellung spontane Zweifel kommen, ob zu diesem Thema noch wesentlich neues gesagt werden konnte und ob im weiteren ein einzelner Historiker im Rahmen seiner Dissertation ein derart weitgestecktes Themenfeld überhaupt bearbeiten kann, der sieht sich in beider Hinsicht eines besseren belehrt. Arnold beginnt seine Darstellung mit der Schilderung der Vorbereitung des Feldzugs nach dem 22. Juni 1941 aus politischer und wirtschaftlich-strategischer Perspektive. Sein Befund ist eindeutig: „Hitlers Entschluß zum Angriff auf die Sowjetunion ging vor allem auf strategische Erwägungen und den unerwarteten Verlauf des Krieges zurück.“ Ideologische Feindschaften oder Lebensraumvisionen traten dabei in den Hintergrund. Das traf laut Arnold auch für die Soldaten der Wehrmacht zu, die von der offiziellen Begründung des Angriffs auf die UdSSR als eines Präventivkriegs seiner Ansicht nach in großer Mehrheit überzeugt waren. Für die Richtigkeit dieser These bringt er noch ein weiteres Indiz. Das Oberkommando des Heeres ermittelte Anfang Juni 1941 jenseits der Grenze bereitstehende sowjetische Fallschirmjägereinheiten aus besonders geschulten Leuten, die „Deutsch und Polnisch sprechen“ und nach Kriegsbeginn die Aufgabe hätten, neben Sabotage im neueroberten Gebiet „Deutsche und solche, die für sie gearbeitet haben, zu erschießen“. Danach untersucht Arnold die Radikalisierung der deutschen Besatzungspolitik, die sich unter dem Eindruck des Kriegsgeschehens in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn abzuzeichnen begann. Die Brutalität sowjetischer Kriegsführung, Stalins Politik der Verbrannten Erde, die Grausamkeiten an deutschen Kriegsgefangenen und die Ausnutzung solcher Vorgänge durch die deutsche politische Führung in Form von Propaganda und einer Verschärfung der Befehlslage schufen bald ein Klima, in dem in manchen deutschen Einheiten offen „Vergeltung an sowjetischen Kriegsgefangenen“ gefordert und begangen wurde. Zudem gerieten trotz des zuerst freundlichen Empfangs durch die Bevölkerung auch Zivilisten in Verdacht, an Sabotage und verdeckter Kriegsführung auf sowjetischer Seite beteiligt zu sein. Die zwei innovativsten Kapitel behandeln die Motive und Absichten bei der Ausnutzung der eroberten Sowjetunion als Wirtschaftsraum für die deutsche Kriegführung und die Klärung der Frage nach den Ursachen des Massensterbens der sowjetischen Kriegsgefangenen von 1941. Gerade letzteres lastet schwer auf dem Ruf der Wehrmacht. Arnold stellt einen Zusammenhang mit der allgemeinen Transport- und Versorgungskrise der Wehrmacht fest, die kaum den notdürftigsten Nachschub für die eigene Truppe beschaffen konnte und vollends nicht in der Lage war, die russischen Kriegsgefangenen entweder an Ort und Stelle zu versorgen oder dorthin zu transportieren, wo sie vernünftig ernährt werden konnten. Einen Plan, die Gefangenen mit Absicht sterben zu lassen, wie es etwa in der Reemtsma-Veranstaltung kolportiert wurde, gab es dagegen nicht. Die ursprünglich befohlenen Ernährungssätze reichten. Wo sie der Wehrmacht wegen besserer Transportlage zur Verfügung standen und ausgegeben werden konnten, wie etwa auf der Krim, blieb das Massensterben unter den Gefangenen aus. In engem Zusammenhang mit der Ernährung der Gefangenen steht die bereits im Nürnberger Prozeß aufgetauchte Behauptung, auch die russische Zivilbevölkerung hätte nach den Vorstellungen der nationalsozialistischen Führung durch einen Hungerplan um bis zu dreißig Millionen Menschen dezimiert sollen. Einen solchen Hungerplan gab es nicht, stellt Arnold fest, meint allerdings bei Hitler persönlich eine prinzipielle Bereitschaft erkannt zu haben, gegebenenfalls in dieser Weise über Leichen zu gehen. Entsprechende Befehle oder Anordnungen des Diktators, die diese Ansicht stützen würden, blieben jedoch aus. Bleiben noch zwei weitere Kapitel, die Partisanenbekämpfung und die Haltung der Wehrmacht zum Mord an den Juden während des Unternehmens Barbarossa. Ein einheitliches Bild des Partisanenkrieges in ganz Rußland gab es laut Arnold nicht. Dazu waren die Verhältnisse in den einzelnen Regionen zu unterschiedlich. Immerhin sei eines klar, so zieht er das Fazit: Behauptungen über einen unterschiedslosen Vernichtungskrieg oder planmäßige Ermordung der Zivilbevölkerung durch Wehrmachtseinheiten während der Partisanenkämpfe seien widerlegt. Von ihm ermittelte Verlustzahlen auf beiden Seiten sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Der Partisanenkrieg war eine Kriegführung, die sich für beide Seiten sehr verlustreich gestaltete. Arnold schließt mit einem vergleichsweise kurzen Abschnitt über die Wehrmacht während des beginnenden Mordes am Judentum im früheren sowjetischen Einflußbereich im Sommer 1941. Er beschränkt sich auf Hinweise, die im wesentlichen den Abscheu der Militärführung zeigen und den Versuch, sich und die Soldaten davon möglichst fern zu halten. Der Generalquartiermeister verbot den Einsatzgruppen generell, im rückwärtigen Heeresgebiet tätig zu werden. Allerdings bleibt die Darstellung hier etwas sporadisch und läßt eine klare Argumentation vermissen, da Arnold die Wehrmacht gleichzeitig doch auch als „Katalysator“ bezeichnet. Wenn etwas zu kritisieren ist, dann dies und die gelegentliche Neigung Arnolds, trotz der Fülle der von ihm an Belegen zusammengetragenen Beweise sprachliche Zugeständnisse an den Zeitgeist zu machen. Dennoch hebt diese Studie das Niveau der Debatte über die Wehrmacht und ihre Besatzungspolitik während des Unternehmens Barbarossa beträchtlich und bedeutet einen Schritt vorwärts, auf eine faire Bewertung zu. Foto: Kalininer Partisanen um 1943: Die Aufgabe, Deutsche und solche, die für sie gearbeitet haben, zu erschießen Klaus-Jochen Arnold: Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, Kriegführung und Radikalisierung im „Unternehmen Barbarossa“. Duncker & Humblot, Berlin 2005, 579 Seiten, broschiert, 48,80 Euro
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