Der Titel „Die Ausnahme des Überlebens“ kündigt eine bedrückende Lektüre an. Nach den ersten Sätzen lädt einen aber die angenehme, emphatische Darstellung zum Lesen ein und verführt dazu, das Buch fast in einem Zuge zu lesen. In chronologischer Abfolge entsteht ein Bild des familiären Herkommens von Hilde und Ernst Federn, der sozialen, kulturellen und politischen Verhältnisse, der Aktivitäten in ihrer Jugend, der Kriegsereignisse, ihrer Befreiung 1945 und der anschließenden zweieinhalb Jahre bis zur Emigration 1948 in die USA. Häufige Regierungswechsel und soziale Unruhen bestimmten das politische Geschehen in Österreich Anfang des letzten Jahrhunderts. Als junger Mensch schloß man sich einer Bewegung an. Ernst Federn bereitete sich auf die Rolle eines sozialistischen Führers nach dem Vorbild Trotzkis vor. Er begann ein Studium – aber: „Viel studiert habe ich nicht“, denn tatsächlich diskutierte er mit Sozialisten über Ziele und Vorgehensweisen.
Noch während der Gymnasialzeit hatte Ernst Federn bei politischen Aufgaben Hilde Paar kennengelernt. Nach der Auflösung des Parlaments 1933 und dem Verbot sozialistischer und kommunistischer Aktivitäten arbeiteten sie illegal als revolutionäre Sozialisten. Im März 1936 wurden sie verhaftet. Ernst Federn erhielt Studienverbot, und es folgte eine zweite, nach dem Anschluß Österreichs 1938 die dritte Verhaftung. Als Sozialist war er ein politischer Feind und wurde nach der nationalsozialistischen Abstammungsideologie außerdem als Jude gekennzeichnet, obwohl er evangelisch getauft war. Er kam nach Dachau, nach fünf Monaten nach Buchenwald und blieb dort bis zur Befreiung durch die Amerikaner 1945. Hilde Paar war Kindergärtnerin und hatte, als Halbjüdin etikettiert, in Wien bleiben können. 1946 haben sich die Verlobten in Brüssel wiedergesehen, 1947 geheiratet, und am 1. Januar 1948 sind sie nach den USA ausgewandert. Dort ist Ernst Federn als psychoanalytischer Sozialarbeiter und seine Frau als Kindergärtnerin tätig gewesen. 1972 wurde Ernst Federn vom damaligen Justizminister Christian Broda, seinem Schulfreund, nach Österreich zurückberufen. Seitdem lebt das Ehepaar Federn wieder in Wien. Bernhard Kuschey hatte sie Ende der achtziger Jahre kennengelernt, als er Fragen zu Kommunismus und Psychoanalyse hatte. Etwa zur gleichen Zeit suchte Ernst Federn einen Biographen. Daraufhin entstand in thematischer Erweiterung das vorliegende Werk als Kuscheys Dissertation. Sie wurde von der österreichischen Regierung und persönlich von Jan Philipp Reemtsma finanziell unterstützt. Es ist die Duo-Biographie von Hilde und Ernst Federn bis zum Januar 1948 und zugleich eine Darstellung des Lebens im Konzentrationslager Buchenwald von seinem Aufbau 1937 bis zum Ende 1945. Bernhard Kuschey, Jahrgang 1955, ist Lehrer an einem Wiener Gymnasium. Er kennt Österreich als Demokratie und mußte sich in die nachkaiserliche, später „austrofaschistische“ und nationalsozialistische Welt seines Heimatlandes einarbeiten. Seine zwei Bände hat er in 13 Abschnitte gegliedert. Schwerpunkte sind familiäre Herkünfte, die Jahre des politischen Kampfes, KZ-Haft in Dachau, Eintritt in die „Lagergesellschaft“ des KZ Buchenwald, Strukturen des „Lageralltags“, Die Wende zur „Endlösung“ und die Rückkehr in die zivile Welt. Als Quellen dienten ihm der mündliche Lebensbericht Ernst und Hilde Federns, die Interviews nach ethno-psychoanalytischer Methode oder direkter Befragung der Federns und von Zeitzeugen sowie thematisch relevante Schriften. Etwa ein Fünftel des Inhalts sind Zitate. Nach einem Zitat hält der Autor inne, wiederholt die Darstellung mit eigenen Worten, stellt sie in einen neuen Zusammenhang und ergänzt sie mit Forschungsergebnissen. In Ernst Federn hören wir einen Zeugen aus der Judenbaracke in Buchenwald, für die SS die unterste Lagergesellschaft. Bekannte Darstellungen werden bestätigt: die Einstellung der SS, ähnlich wie sie Rudolf Höß in „Auschwitz in den Augen der SS“ beschreibt. Richtigstellungen gibt es zum Beispiel zum Bericht Emil Carlebachs (in: Der Buchenwald-Report, 1996) über das Wirken der kommunistisch-stalinistischen Gefangenen, die erpicht darauf waren, alle Funktionsstellen der den Gefangenen aufgezwungenen Verwaltung zu besetzen (Funktionshäftlinge), und unterhalb der SS ihre Gewaltherrschaft ausübten. Ernst Federn verrichtete wie andere schwere körperliche Arbeiten, er hatte aber auch das Glück, privilegierte Tätigkeiten ausüben zu können: Nachtwächter und Maurer. Sein Überleben führt er auf solche günstigen Umstände zurück, auf seine stabile Konstitution und auf die tragende Bindung an Hilde Paar und Lagerfreunde. Er hat Mithäftlingen Mut gemacht. „Wir werden durch den Schornstein aus diesem Lager herauskommen!“ hieß es. Ernst Federn sagte: „Wir werden durch das Tor hinausgehen.“ Ein Mithäftling bemerkte später: „Du warst verrückt im Lager mit deinem Optimismus! Aber es war gut, dir zuzuhören.“ In diesen zwei Bänden ist Kuschey ein eindringliches, fleißiges und wahrhaftiges Werk gelungen. Das liegt an den mündlichen Berichten der Federns und am Stil der Darstellung. Der Text überhöht und mildert nicht, er ist durchsichtig und läßt das Geschehen wirken. Und bei aller Akribie und wissenschaftlichen Nüchternheit schwebt über dem Werk die Stimmung des Nichtbeschreibbaren. Es ist eine beispielhafte Studie zum nationalsozialistischen Terror im dreißigjährigen Krieges des letzten Jahrhunderts, eingebunden in die Darstellung des Lebens im KZ Buchenwald – anhand des Berichts von Hilde und Ernst Federn aus Österreich. Bernhard Kuschey: Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse des Konzentrationslagers. Psychosozial-Verlag, Wien 2003, 2 Bände, zusammen 1.082 Seiten, broschiert, Bilder und Grafiken, 49,90 Euro Foto: Lagerbaracke des KZ Buchenwald nach der Befreiung durch die Truppen der 3. US-Arme: Stimmung des Nichtbeschreibbaren