Alle Glocken brachen los“, heißt es in Franz Werfels „Verdi. Roman der Oper“. Gemeint sind die Glocken Venedigs in der Sterbestunde Richard Wagners am 13. Februar 1883 um drei Uhr nachmittags. Richtig ist, daß man weltberühmter kaum sterben kann als im Palazzo Vendramin-Calergie am Canal Grande. In allen Reiseführern wird er als einer der schönsten Venedigs bezeichnet. Selbst der skeptische Gottfried Benn schwärmte von den „Vendraminpalästen, / tödlichem Lagun, / wo das Herz in Resten / und die Blicke ruhn“. Ob Wagner, als er am 16. September 1882 in Venedig eintraf, wußte, daß er hier sein letztes Quartier aufschlagen würde? Die Anreise war voller Zeichen, daß eine Rückkehr nicht in Frage kam. „Zwei Brücken, die Eisenbahnbrücke in Ala und die herrliche Etschbrücke in Verona, brachen eine halbe Stunde, nachdem wir sie überschritten hatte, zugrunde: über die letztere ist niemand mehr nach uns gefahren“, schrieb er seinem Gönner, dem Bayernkönig Ludwig II. Der nach den ursprünglichen Besitzern, einer Kaufmannsfamilie, benannte Palazzo ist ein Paradebeispiel hoheitsvoller Renaissancearchitektur. Die Fassade gliedert sich in drei gleich hohe Geschosse, deren zweibogige Fenster in Arkaden eingegliedert sind. Wagner starb allerdings nicht im Hauptgebäude, sondern im Zwischengeschoß des zurückgesetzten Seitenflügels. Vor dem Betrachter, der auf dem Vaporetto vorbeigleitet, versteckt dieser sogenannte „weiße Flügel“ sich hinter Bäumen und Eisengittern. Zur Kanalseite (und nicht rückwärtig, wie Martin Gregor-Dellin in seiner Wagner-Biographie schreibt) bleibt Platz für einen Garten. Der Palast verfügte als einer der ersten über eine moderne Heizungsanlage, was für den kälteempfindlichen Wagner bei der Quartiersuche ausschlaggebend war. Zu jenem Zeitpunkt war das Haus längst an neue Besitzer übergegangen. Wagners Vermieter war der Graf von Chambord, ein Bourbonensproß, der 1873 beinahe französischer König geworden wären, hätte er nicht darauf bestanden, die Trikolore durch das Lilienbanner zu ersetzen. Seit 1945 ist im Palazzo das Winterquartier des Casinos untergebracht, seit1949 gehört er der Stadt. Für die Besucher gibt es einen eigenen, von einem blauen Baldachin überspannten Anlegesteg. Im Februar 1995 überließ die Kommune Wagners Sterbezimmer der drei Jahre zuvor gegründeten „Associazione Richard Wagner di Venezia“ (A.C.I.T.). Seitdem ist es für die Öffentlichkeit zugänglich. Man trifft sich Sonnabendvormittag kurz vor zehn Uhr am Hinterausgang, wo eine Tafel an „Riccardo Wagner“ erinnert. Uns erwartet eine junge Frau aus Deutschland, die in Venedig lebt. In der Hand hält sie die Westausgabe von Friedrich Dieckmanns „Richard Wagner in Venedig“, in dessen – originaler – Ostausgabe wir eben selber noch geblättert haben. Den Palazzo betreten wir durch den Personaltrakt, vorbei an der Wache hinter einem Glasfenster, durch Flure und Büros, die den Charme eines Arbeits- oder Sozialamts verströmen. Im Casino ist es noch still. Seitdem eine Filiale auf dem Festland eröffnet hat, sind hier die Umsätze eingebrochen und mußte die Sommer-Dependance auf dem Lido schließen. Früher waren zu dieser Zeit die Spielautomaten im Gange, heute sind es nur die Scheuerfrauen. Sechsmal war Richard Wagner in Venedig. Beim ersten Mal, 1858/59, wohnte er kanalabwärts im gotischen Palazzo Guistinian. Obwohl ohne Geld, ließ er sich zuerst den Tapezierer kommen, um die Wände mit dunkelrotem Stoff beziehen zu lassen. Hier komponierte er den zweiten „Tristan“-Akt. Venedig und „Oh sink hernieder, Nacht der Liebe“ – ein bis zum Überdruß strapaziertes Thema. Und doch ein unvermeidliches. Der 2001 verstorbene Dirigent Giuseppe Sinopolis hat in seinem Buch „Parsifal in Venedig“ ausführlich darüber nachgedacht: „Es gibt keine Stadt, in der Land und Wasser – erstes ist des zweiten Tod, im heraklitischen Sinn – sich so durchdringen, sich einander verweigern und in einer mysteriengleichen Symbiose verschmelzen, die an den Begriff von Leben und Tod gemahnt.“ Und Wagner hatte 1858 notiert: „Größe, Schönheit und Verfall dicht nebeneinander. Doch erquickt durch die Reflektion, daß hier keine moderne Blüte, somit keine geschäftige Trivialität vorhanden. Marcusplatz von zauberischem Eindruck. Eine durchaus ferne, ausgelebte Welt: sie stimmt zu dem Wunsch der Einsamkeit vortrefflich. … Ich will hier bleiben – und somit werde ich es.“ Hat die Atmosphäre Venedigs seine musikalischen Strukturen tatsächlich beeinflußt? Wagner erwähnt eine Mondscheinfahrt, auf der sein Gondoliere in einen anschwellenden Klagelaut ausbrach, der „in den einfach musikalischen Ausruf ‚Venezia!'“ mündete. „Die hiermit zuletzt berührten Eindrücke waren es, welche Venedig während meines Aufenthaltes daselbst für mich charakterisierten und bis zur Vollendung des zweiten Aktes von ‚Tristan‘ mir treu blieben …“ Auch Tizians sieben Meter hohes Gemälde „Marias Himmelfahrt“ am Hauptaltar der Frari-Kirche (in der sich das Grab Claudio Monteverdis befindet) hat auf ihn „eine Wirkung von erhabenster Wirkung“ ausgeübt. Ein Kranz von Engeln trägt die Gottesmutter in den Himmel, der – analog zu den Mosaikgewölben von San Marco – als goldene Halbkugel erscheint. Nach eigenem Bekunden hat ihn die Szene zur Ausführung der „Meistersinger“ und zu „Isoldes Liebesverklärung“ inspiriert. Als Wagner 1882 zum finalen Venedig-Besuch eintraf, lagen strapaziöse Festspiele samt Uraufführung des „Parsifal“ hinter ihm. Ein unablässiger Besucherstrom sorgte dafür, daß er weiterhin nicht zur Ruhe kam. Vor allem der mehrwöchige Aufenthalt seines Schwiegervaters Franz Liszt war voller Spannungen. In Briefen stritt er sich mit Ludwig II., der eine Münchner Privataufführung des „Parsifal“ wünschte, den Wagner für Bayreuth reserviert wissen wollte. In diesem Zusammenhang fiel das später vielzitierte Wort vom „Welt- und Lebens-Abschieds-Werk“. Fünfzehn Zimmer hatte Wagner für sich, die Familie und die Dienerschaft angemietet. Zwei Tage wohnte er im Hotel, bis die Räume vollständig hergerichtet waren. In einem großen, vestibülartigen Raum, in dem sich das Eßzimmer befand, saß die Familie am Mittagstisch, als ein Dienstmädchen nach Cosima rief. Siegfried Wagner berichtete, wie seine Mutter ins Nebenzimmer stürzte: „Eine Gewalt leidenschaftlichen Schmerzes drückte sich darin aus; dabei stieß sie sich so stark an dem halbgeöffneten Türflügel, daß dieser fast zerbrach.“ Das Sterbezimmer also. Die Schriftstellerin Henry (Henriette) Perl hat in dem 1883 erschienenen Buch „Richard Wagner in Venedig“, das offenbar auf intimer Kenntnis der Örtlichkeiten und Personen beruht, von seinem „allerköstlichsten Rosenduft“ und einer „nervenaufreizenden Atmosphäre“ berichtet. Die Wände waren mit blaßrosa und wassergrünem Atlas verkleidet, es gab sechsfach geschichtete Gardinen in unterschiedlichen Farben. Die Schlafstätte war ein extrem niedriges Lager von kolossalen Dimensionen, das von schwerem Atlas und Goldbrokatdecken dominiert wurde. Darum gruppierten sich sechs „gewaltige Stühle von gleicher Farbe und gleichen Stoffen“. Das läßt an die schwüle Atmosphäre eines Harems denken. Oder an Nietzsches Worte über „das Convulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärferen Würzen verlangte (…) Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel läßt: Wagner est une névrose.“ Der Besucher ist froh, daß ihm dieser Anblick erspart bleibt. Das Zimmer, das er betritt, ist großzügig bemessen. Die Wände sind mit einer bräunlichen Seidentapete bedeckt. Zwischen den beiden Fenstern befindet sich ein Kamin, darüber ein fleckiger Spiegel. Eine Wagner-Büste, zwei altertümliche Schreibtische, ein altes Klavier und einige Stühle bilden das Mobiliar. Nichts davon ist original. In Glasvitrinen sind Faksimiles, Kopien, Bücher, Schriftstücke zu besichtigen. In einem großen Rahmen hängt ein Plakat von 1883, welches das venizianische Gedenkkonzert für Wagner ankündigte. Der Wagner-Verein möchte die gesamte Etage übernehmen, für Tagungen, Versammlungen, Kurse und für museale Zwecke. Ein Blick noch aus dem Fenster. Auf dem Kanal glitzert die Frühlingssonne. Die Bäume sind grün, der Kies und das Marmorbecken im Garten gleißen hell. Wohl dem, der dies als letzten Anblick von dieser Seite der Welt mitnehmen darf. Fotos: Sicht aus dem Sterbezimmer Richard Wagners: Wohl dem, der dies als letzten Anblick mitnehmen darf / Wagner-Tafel am Hintereingang des Palazzo Vendramin Richard-Wagner-Saal. Sterbezimmer in Ca‘ Vendramin Calergie. Besichtigung mit Führung in Zusammenarbeit mit der A.C.I.T. Nur mit Voranmeldung. Info: 00 39 / 041/ 5 23 25 44 / Fax 00 39 / 041 / 5 24 52 75
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