Die historische Erinnerung bevorzugt den Täter. Seine Schwundform, der Schreibtischtäter, muß daher eine Menge auf dem Kerbholz haben, um wie Adolf Eichmann im kollektiven Gedächtnis haften zu bleiben. Wer jedoch als Technokrat oder Theoretiker nicht in solche Aura des Bösen gehüllt ist, ist dem Vergessen anheimgegeben. Das illustriert anschaulich das Erinnerungsgeschick der Brüder Stauffenberg. Der ältere von beiden, Berthold, kam nie über den Status eines Schattenmannes hinaus, schemenhaft bekannt als Bruder des Obristen, der am 20. Juli 1944 eine Bombe im Führerhauptquartier explodieren ließ. Historische Gerechtigkeit gebietet es heute, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, den Mitverschwörer und engsten Vertrauten seines Bruders Claus, aus dem Dunkel des Vergessens zu holen. Vor zehn Jahren begann Peter Hoffmann damit in seinem Porträt der „Brüder Stauffenberg“. Der Tübinger Völkerrechtler Wolfgang Graf Vitzthum ist ihm 1995 mit einer detaillierten Lebensbeschreibung gefolgt. Und Vitzthum hat dann einen Doktoranden, den jetzt in Augsburg als Rechtsanwalt tätigen Alexander Meyer, motivieren können, Biographie und wissenschaftliches Werk Berthold Stauffenbergs in allen Facetten zu erforschen. Meyer hat sein Unternehmen in drei Teile untergliedert. Auf den ersten hundert Seiten trägt er zusammen, was sich in den Archiven und Bibliotheken über den Lebensweg finden ließ, der, geprägt von den Anschauungen im Kreis Stefan Georges, früh in eine erfolgreiche Karriere als Völkerrechtsexperte im Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und öffentliches Recht und Völkerrecht mündet. 1931, mit 26 Jahren, ist ein erster Gipfelpunkt erreicht, als Berthold Stauffenberg Sekretär am Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag wird. Eine Tätigkeit, die er bis 1933 ausübt, und die er als Autor eines völkerrechtlichen Standardwerks krönt, dem französisch geschriebenen Kommentar zum Statut des Gerichtshofes, der 1995 Graf Vitzthum die bewundernde Frage abzwang: „Wem aus unserer Zunft gelang ein solcher Wurf mit 28 Jahren?“ Der Ausnahmejurist kehrt 1934 an sein Berliner Institut zurück, publiziert völkerrechtliche Aufsätze und beginnt sich in die Feinheiten des Wirtschaftskrieges zur See zu vertiefen. Bald gilt er als führender Kopf zweier Ausschüsse, in denen lange vor 1939 neue see- und luftkriegsrechtliche Regeln erarbeitet werden. Die im August 1939 zur völkerrechtlichen Hegung des nahenden Seekrieges publizierte „Deutsche Prisenordnung“ ist wesentlich Stauffenbergs Werk. Die folgenden fünf Jahre verbringt er als Völkerrechtler im Oberkommando der Marine am Berliner Tirpitzufer, bevor die tiefe „Verstrickung“ in die Tat des Bruders am Abend des 20. Juli zur Verhaftung und bald danach zur Hinrichtung führt. Diese recht ereignisarme Biographie eines Juristen, der 1943/44 nur durch einige Auslandssondierungen im Interesse des Widerstands ins politische Geschehen einzugreifen versuchte, hat Meyer in allen Details ergründet. Etwas unterbelichtet bleibt nur die Ausnahmestellung im George-Kreis, und man mag bedauern, daß Stauffenbergs Briefe an den „Meister“ nicht im Anhang dokumentiert sind. Weniger befriedigen dagegen der zweite, der Internationalen Gerichtsbarkeit, und der dritte, dem Seekriegsrecht, gewidmete Teil der Studie. Zwar dürfte der Einsteiger in diese Segmente internationalen Rechts für die Handbuchwissen kompilierenden Exkurse dankbar sein – aber der Zusammenhang mit Stauffenbergs Wirken geht darüber verloren. Um näher am Thema – ein Völkerrechtler im Widerstand – zu bleiben, hätte Meyer Stauffenbergs Publikationen nach 1933 genauer analysieren, nicht aber, wie er dies in ermüdender Breite tut, Entscheidungen des Haager Gerichtshofs seit 1922 referieren sollen. Völlig unklar bleibt deshalb, in welcher Weise Stauffenberg mit seiner Arbeit den „Machenschaften“ der NS-Regierung das „Mäntelchen der völkerrechtlichen Legalität“ umgehängt haben soll. Vielmehr war es doch so, daß der Revisionskurs Adolf Hitlers bis 1938 sich der Zustimmung der „Funktionseliten“, zu denen beide Stauffenberg-Brüder zählten, sicher sein durfte, weil sie die von ihm beseitigte Versailler Ordnung mit guten Gründen für völkerrechtswidrig hielten. Mit einer gewissen Verwunderung notiert Meyer, wie loyal Stauffenberg etwa die Völkerrechtsbrüche Polens und Litauens kommentiert. Daraus spricht aber kein ortloses „Verlangen nach Recht und Gerechtigkeit“ oder eine prinzipielle Parteinahme für „kleine und schwache Parteien“, die unterschiedslos Grönland und das Memelland einschließt. Vielmehr wird eine entschiedene Vertretung der völkerrechtlichen Ansprüche des Reiches gegenüber den Profiteuren des Versailler Systems geltend gemacht. Wer jedoch wie Meyer von einer annexionistischen Militärdiktatur wie Litauen als vom „Hauptberechtigten“ am Memelland spricht, scheint die Konstellationen der internationalen Politik zwischen den Weltkriegen nicht so ganz verstanden zu haben. Daraus erklärt sich wohl auch die befremdliche Anmerkung, daß Ernst Wolgasts brillante Analyse des seinerzeit heftig umstrittenen „Wimbledon“-Falles nicht überzeugen könne, weil sie „offensichtlich nationalistisch geprägt“ sei, oder die mindestens fragliche Einschätzung, bei der Remilitarisierung des Rheinlandes im März 1936 habe es sich „um einen offenen Bruch des Versailler Vertrages“ gehandelt. Geradezu zeitgeistig bizarr wirkt in diesen reichlich ahistorisch bewerteten Kontexten Meyers Hinweis auf die „aggressive und gefährliche Politik“ der deutschen Seekriegsleitung. Wäre dem so, hätte Stauffenberg wohl kaum eine Prisenordnung erstellen dürfen, der Meyer unter Berufung auf britische Urteile bescheinigt, dieses „humane und korrekte Regelwerk“ habe den Geist einer fairen Handelskriegführung geatmet. Stauffenberg leistete damit als Soldat und Jurist, als „Anwalt des Reiches“ (um diesen Titel nicht allein für Carl Schmitt zu reservieren), der militärischen Führung seines Vaterlandes einen Dienst und nicht, wie Meyer den Sachverhalt im Stil eines kleinkindlichen Gute-Nacht-Gebets verquast, der „Menschheit“, der „Welt“ oder gar „friedlichen Seefahrern und wehrlosen Handelsschiffen“. Wer so stark mit bundesdeutscher Elle mißt, der verwechselt auch den britischen Premier Neville Chamberlain mit der Hollywoodgröße Richard Chamberlain. Ohne noch auf Meyers, von seinem Lehrer Vitzthum beeinflußten, haltlosen, naturrechtlichen Spekulationen eingehen zu müssen, die sich auf einen nebulösen, nie definierten „gerechten Staat“ beziehen, ist zu resümieren, daß der fatal aktualisierende Hang, Berthold Stauffenberg als ethischen Universalisten zu vereinnahmen, den Völkerrechtler mit seinen konkreten Positionen im Kampf gegen Versailles und Genf wiederum zum Schattendasein verurteilt. Claus und Berthold von Stauffenberg mit ihrer Mutter (1928): Zu-stimmung der „Funktionseliten“ zu Hitlers Revisionskurs Alexander Meyer: Berthold Schenk Graf von Stauffenberg. Völkerrecht im Widerstand. Duncker & Humblot, Berlin 2001, 304 Seiten,
62 Euro