W as wollte Kraus nun eigentlich?“ möchte man nach der Lektüre von Friedrich Rothes neuer, aufwendig gestalteter Karl-Kraus-Biographie, der ersten umfassenden Lebensbeschreibung des Fackel-Herausgebers und „Antijournalisten“ – wie ihn Thomas Mann nannte – erschöpft fragen, und diese Erschöpfung ist sicher nicht die Schuld des Biographen, der im Gegenteil sein Handwerk versteht und seinen Forschungsgegenstand wie kaum ein Zweiter kennt, sondern resultiert eher aus der Widersprüchlichkeit und habituellen Widerborstigkeit des Satirikers und „ewigen Nörglers“. Vor allem weiß man nun, was er nicht wollte – und auch das ist oft überraschend, hält man doch Kraus gemeinhin für einen der Urväter linker, „kritischer“ Publizistik und sieht ihn dabei verzerrt und verhutzelt durch eine Verkleinerungsbrille Frankfurter Machart. Kraus‘ bevorzugtes Haßobjekt ist das Pressewesen seiner Zeit – und wohl auch unserer, hätte er sie noch erlebt -, das die Wirklichkeit durch Phrasen ersetzt und die Welt aus Profitgier vernebelt: „Für Kraus stand fest: Um 1900 hatte es mit Zeitungsphrasen begonnen. Sie verwandelten reale Dinge und Vorgänge in Surrogate, schufen eine Atmosphäre der politischen Hochspannung, raubten den sensationslüsternen Lesern eigene Wahrnehmung und schwächten das Vorstellungsvermögen. Mit verführerischen Parolen wie ‚Kraftäußerung‘, ’schimmernde Wehr‘ und ‚Platz an der Sonne‘ hatten die vaterländischen Zeitungen die Regierungen der Mittelmächte (…) in den Weltkrieg getrieben. Während des Krieges spornten sie an durchzuhalten; danach taten sie alles, um dessen grausige Realität in Vergessenheit zu bringen, damit die nächste Generation, von Erinnerungen ungetrübt, wiederum das ‚Feld der Ehre‘ betreten konnte.“ Aber nicht nur die konservativen Blätter, auch – und womöglich noch schärfer – die liberalen und sozialdemokratischen nahm Kraus stets ins Visier, besonders die Neue Freie Presse, das zentrale Organ des Wiener Liberalismus: „Wo immer Kraus diese Zeitung aufschlug – von der politischen Nachricht zum Leitartikel über das Feuilleton, vom Lokalteil bis hin zu den Annoncen -, überall vernahm er die Stimme der Börse, die materiellen Vorteil mit dem Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen in Einklang zu bringen versuchte. In wohlgesetzten Worten beklagte man unmoralische Zustände, an denen man im gleichen Atemzug verdiente.“ So habe man etwa, wie Rothe anführt, den Ehefrauen zuliebe die zunehmende Prostitution und herrschende Unmoral bedauert, um wenige Seiten später in bezahlten Anzeigen den Ehemännern die einschlägigen Adressen mitzuteilen. Freilich ist, wie der Autor mit reichem Material belegt, auch Kraus‘ eigenes Leben nicht frei von solch bürgerlich-liberaler Scheinheiligkeit; schon die gesamte, recht bindungslose Existenz des eingefleischten Junggesellen und einsamen Nachtarbeiters nimmt einen liberalen Individualismus für sich in Anspruch und profitiert von dessen ökonomischer Basis, in Kraus‘ Falle dem väterlichen, von den beiden Brüdern geleiteten Firmenerbe, welches ihm seine unabhängige publizistische Stellung überhaupt erst ermöglichte. Um so erstaunlicher sind daher die wechselnden Allianzen – die sich jedoch nie zu ideologischer Übereinstimmung verfestigten -, welche Kraus sowohl mit den Kommunisten als auch mit dem Ständekonservatismus schließen konnte. Bei den Kommunisten waren es der Antimilitarismus und die kompromißlose Ablehnung der als korrupt angesehenen Ordnung, die ihn seit Ende der zwanziger Jahre einen deutlichen Schwenk nach Linksaußen machen ließ – der deshalb bemerkenswert ist, weil sich Kraus nie für kommunistische Ideologeme erwärmen konnte und auch seine durchaus traditionsorientierte Kunstauffassung niemals nachhaltig änderte. Dann wieder ließ ihn Dollfuß‘ Absage an großdeutsche Bestrebungen den österreichischen Konservatismus der Zwischenkriegszeit – sehr zum Unbillen der ihn vornehmlich rezipierenden linken Öffentlichkeit – als das im Vergleich mit der sozialdemokratischen und alldeutschen Opposition kleinere Übel ansehen. An der Sozialdemokratie wiederum kritisierte er ihren kleinbürgerlichen Habitus, ihr kompromißlerisches Paktieren mit den Vertretern der alten Ordnung und ihre hundertfünfzigprozentige Übernahme deren autoritären Geistes sowie ihre Unfähigkeit, nach dem Umsturz von 1918 eine neue und stabile Gesellschaftsordnung zu errichten. Letztlich war es diese Unproduktivität der sich nur in bestehende Strukturen einnistenden Sozialdemokratie, die nach Kraus dem Nationalsozialismus den Weg geebnet hat – und gerade nicht der auch heute noch gerne als Vorstufe des „Faschismus“ angesehene Konservatismus. 1932 beschwört er in einer Rede seine Zuhörer, die noch immer auf die Sozialdemokraten hoffen: „Und wenn die Welt voll Hakenkreuzler wär‘ – an deren Erschaffung ja der Sozialdemokratie, hüben und drüben, das Hauptverdienst gebührt -: wir müssen uns endlich klar werden, daß es, seitdem sich Menschheit von Politik betrügen läßt, nie ein größeres Mißlingen gegeben hat als das Tun dieser Partei, und daß die Entehrung sämtlicher Ideale, die sie benützt haben, um mit der Bürgerwelt teilen zu können, vollendet ist.“ Klingt Kraus‘ Kritik an der Verbürgerlichung der Sozialdemokratie und ihrer Wegbereiterschaft für den Nationalsozialismus heute zwar erfrischend unorthodox, so ist doch fraglich, ob ihr „Tun“ weniger mißlungen wäre, wenn sie auf ihre Herkunft als Arbeiterpartei beharrt hätte; zudem kritisiert Kraus ihre „völkische“ Ideologie, die sie den Anschluß an das Deutsche Reich fordern ließ, ohne so recht einsichtig machen zu können, warum der von ihm selbst für nur vorübergehend gehaltene Status quo des deutschen Restösterreich nach dem Untergang der Monarchie unbedingt und gegen den Willen weiter Teile der österreichischen Bevölkerung, verteidigt werden muß. Insgesamt zeigt sich Kraus in Friedrich Rothes Biographie durchaus nicht als der linke Publizist, für den er gewöhnlich gehalten wird, sondern eher als ein entwurzelter Altösterreicher, der sich verständlicherweise mit keiner der nach 1918 angebotenen neuen Ordnungen so recht anfreunden konnte und daher letztlich einen in alle Richtungen austeilenden utopischen Nihilismus entwickelte. Friedrich Rothe: Karl Kraus. Die Biographie. Piper Verlag, München 2003, gebunden, 423 Seiten, 49 Abbildungen, 24,90 Euro