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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Der Vater aller Türken

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Manchmal tauchen auf der politischen Weltbühne Persönlichkeiten auf, die das Schicksal ihrer Nation nachhaltig und bis lange nach ihrem Tod beeinflussen – zum Guten oder zum Bösen. Stalin, Hitler, Churchill, Mao gehörten ebenso zu diesem seltenen Menschenschlag wie einer, von dem man weniger redet, dessen späte Ausstrahlung und Nachwirkung aber gerade in den letzten Wochen und Monaten anschaulich auf die Ereignisse einwirkte: Mustafa Kemal, dem nach elfjähriger Regentschaft als Staatspräsident von der Großen Nationalversammlung 1934 die Ehrenbezeichnung Atatürk („Vater der Türken“) verliehen wurde. Gerade wegen des nachhaltigen und hochaktuellen ideologischen Einflusses des Mannes, der vor fast 65 Jahren, am 10. November 1938, gestorben ist, ist eine biographische Neuerscheinung höchst willkommen. Spannend macht die Lektüre dieser Biographie in erster Linie die Erkenntnis, daß einige gegenwärtige Entwicklungen überhaupt nicht neu sind, sondern in alten türkischen Traditionen verankert sind, die bis tief in die Geschichte des Osmanischen Reiches zurückreichen. Auffällig ist dabei die Rolle, die das Militär seit jeher im politischen Leben der Türkei gespielt hat. In den westlichen Medien wird immer wieder darauf hingewiesen, daß nach Ende des Zweiten Weltkrieges die türkische Armee gleich dreimal offen geputscht hat – die politischen Drohungen der Militärs hinter den Kulissen sind kaum zählbar. Halil Gülbeyaz, ein in Hamburg lebender Fernsehjournalist, beschreibt Mustafa Kemals Lebenslauf als typisch für die türkische Gesellschaft seiner Zeit. Diese Erkenntnis gewinnt besonderes Gewicht im Zuge der Debatte über einen möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, zumal niemand voraussagen kann, daß es nie wieder zu einer Machtergreifung der Generäle kommen wird. Besonders minutiös zeichnet der Autor den ersten Teil von Mustafa Kemals Lebenslauf nach, die letzten fünfzehn Jahre des „Vaters aller Türken“ kommen etwas zu kurz. Die Wanderungen des jungen Mustafa Kemals aus einer Garnison in die andere und von einer politischen Gruppierung zur nächsten werden im Detail und nicht ohne literarisches Geschick beschrieben. Darüber wird jedoch der historische Verdienst des großen Reformers vernachlässigt, der bis jetzt als einziger in der Moderne versucht hat, aus einem ursprünglich zutiefst moslemischen Land eine moderne, laizistisch ausgerichtete, westlichen Vorbildern nacheifernde Republik zu modellieren. Auch das schwere Leiden des chronischen Alkoholikers bis zum Tod an Leberzirrhose scheint allzu flüchtig zusammengerafft. Viele gegenwärtige Ereignisse, die uns als exotische moslemische Sitten und Gebräuche erscheinen, tauchen in Gülbeyaz‘ Darstellung auf. Westliche Beobachter, die die „Fatwa“ des Ayatollah Khomeini gegen den Schriftsteller Salman Rushdie wegen seiner „Satanischen Verse“ als archaisches Relikt früher Zeiten erstaunt zur Kenntnis nahmen, werden daran erinnert, daß der osmanische Scheich-ul-Islam, die höchste geistliche Autorität des damals noch bestehenden Kalifats, 1920 in einer Fatwa die Tötung Mustafa Kemals forderte. Doch die Gülbeyaz-Biographie erwähnt auch, wie Mustafa Kemal sich des moslemischen Glaubens bediente, wenn es seinen Zielen entgegenkam. Obwohl er nie ein gläubiger und schon gar kein fanatischer Moslem war, verkündete der zynische Machtmensch während seiner berühmten und siegreichen Schlacht von Gallipoli im Ersten Weltkrieg 1915 – eine entscheidende Episode des Kampfes um den Dardanellen – dem Feind vor seinen Soldaten den Dschihad, den heiligen Krieg, und versprach den im Kampf mit den westlichen, also ungläubigen Alliierten gefallenen „Märtyrern“ das Paradies, gespickt mit den legendären, wunderschönen Jungfrauen. Über den Völkermord an den Armeniern gleitet Gülbeyaz flink und geschickt hinweg, nicht aber über den im Westen traditionell verschwiegenen Völkermord an den Kurden. Die Beziehung zu den Kurden wirft überhaupt ein grelles Licht auf die Ruchlosigkeit des großen Mannes. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges plädiert Mustafa Kemal für eine regionale Autonomie der Kurden. „In den Gebieten, wo die Kurden in der Mehrheit sind, werden sie sich selbst verwalten“, läßt sich Kemal Anfang der zwanziger Jahre zitieren. Wenige Monate später, als am 29. Oktober 1923 nach Unterschreibung des Vertrages von Lausanne und der Absetzung des Sultans die neue türkische Verfassung ausgearbeitet wird, notiert Kemal: „Das Vaterland ist eine Einheit, die keine Teilung akzeptiert. Bei der Entstehung der türkischen Nation spielten folgende geschichtliche und natürliche Ereignisse eine Rolle: a. Politische Einheit; b. Sprachliche Einheit; c. Einheit der Heimat; d. Einheit von Rasse und Herkunft; e. Historische Verwandtschaft und f. Moralische Verwandtschaft.“ Damit werden natürlich alle Rechte der Kurden aberkannt und es fängt jene blutige Repression an, die bis zum heutigen Tag andauert. Dabei ist der Kampf gegen die linksrevolutionäre PKK, der in der Berichterstattung immer in den Vordergrund gestellt wird, wenig präzise und wird der politischen Realität nicht gerecht. Eines der großen Paradoxe der türkischen Zeitgeschichte besteht darin, daß das Recht der Kurden, die eigene Sprache in der Öffentlichkeit zu benutzen, erst vor wenigen Monaten, von einer islamistischen Regierung – also einer ideologisch antikemalistisch ausgerichteten Macht – gewährt wurde. Der Mann, der als großer Modernisierer in die Geschichte eingegangen ist, der statt des islamischen Rechts das Schweizer Zivilrecht und Familiennamen einführte und die Polygamie abschaffte, setzte oft mit ruchlosen, blutigen Mitteln seine Vorstellungen durch. In Zusammenhang mit dem Verbot des traditionellen Fez und dem Zwang zum Hut wurden 138 Todesurteile verhängt und vollstreckt. Bei der Niederschlagung des Kurdenaufstandes von 1936 starben mehr Menschen als bei den Kurdenmassakern des Saddam Hussein. Der Begriff der „ethnischen Säuberung“ war noch nicht in der Zeitgeschichte aufgetaucht, als Atatürk sie schon längst praktizierte. Das Bild, das sich aus seiner Biographie ergibt, ist eine einmalige Mischung modernen Denkens und asiatischer Herrschsucht. Doch es taucht in diesem modernen Denken auch so mancher Unfug auf, wie etwa die nationalistisch begründete Behauptung, die Türken seien das älteste Volk der Erde. Das geistige Erbe Kemal Atatürks – samt seiner düsteren, durchwegs despotischen Aspekte – erweist sich als zäh und langlebig. Allerdings sind wir Zeugen – unter der Einwirkung der weltweiten Renaissance des militanten Islam – wie aus den Tiefen der Vergangenheit auch in der Türkei Kräfte aufgetaucht und an die Macht gelangt sind, die die Trennung von Staat und Religion, wie von dem Revolutionär Kemal Atatürk gegen den Willen der Mehrheit, den Türken mit Gewalt aufoktroyiert wurde, jetzt schrittweise aufheben. Eine Anweisung der Erdogan-Regierung an die diplomatischen Auslandsvertretungen der Türkei, man solle vorbehaltlos die militante Organisation Milli Görüs unterstützen, wäre unter Atatürks Herrschaft schier unvorstellbar gewesen. Foto: Mustafa Kemal als türkischer Staatspräsident (undatiert): Einmalige Mischung modernen Denkens mit asiatischer Herrschsucht Halil Gülbeyaz: Mustafa Kemal Atatürk – vom Staatsgründer zum Mythos. Parthas Verlag, Berlin 2003, gebunden, 265 Seiten, 28 Euro

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