Eigentümlich berührt wurde Pankraz beim Besuch des neuen Varusschlacht-Museums im Teutoburger Wald vom Anblick eines Centurios, dessen auf dem Schlachtfeld gefundener Schädel von Archäologen und plastischen Gesichtschirurgen "rekonstruiert" worden ist und nun dort gezeigt wird. Man fand den Schädel unter einer blechernen Gesichtsmaske, wie sie römische Offiziere im Nahkampf zu tragen pflegten und die den Zügen ihres jeweiligen Trägers sehr genau angepaßt war. Die Rekonstruktion zeuge also, wie einem versichert wird, von "größter Authentizität".
Der Betrachter sieht das Antlitz eines Kämpfers "im Augenblick des Todes", wie er seinen germanischen Gegner durch die Augenschlitze fixiert, während er den tödlichen Streich empfängt. Es ist ein sehr eindrucksvolles Antlitz, auf dem sich außerordentliche Konzentration und eine Art kindliches Erstaunen ergreifend mischen. Die Paläo-Chirurgen haben sich viel Mühe gegeben, haben sich in die Situation ihres fallenden Offiziers "hineingefühlt". Aber wieviel von ihrer Rekonstruktion ist wirklich authentisch und wieviel ist gutgemeinte Zutat, bloße Phantasie?
Die heikle Problematik jeglicher historischer Rekonstruktion tritt im Bild des Centurios aus dem Teutoburger Wald geradezu klassisch zutage. Man möchte die unverstellten geschichtlichen Fakten und nichts als die Fakten – und muß sich doch immer erst einmal "hineinfühlen", um überhaupt in Fahrt zu kommen. Denn geschichtliche Fakten im strengen Sinne gibt es gar nicht, es gibt "Überreste", zum Beispiel Ruinen, Waffen, Schmuck, Akten, Briefe oder eben Schädel und Gesichtsmasken.
Zwar gibt es auch noch "Überlieferungen", z. B. Sagen, Annalen, Chroniken, Bilder, Filme. Aber die helfen wenig, denn es ist in sie immer schon vorgängig ein bestimmter Standpunkt, eine bestimmte Perspektive eingeflossen, hinter der sich die Fakten verbergen. Keine der sogenannten historischen Hilfswissenschaften, weder Archäologie noch Urkundenlesen, Inschriftkunde, Heraldik, Waffenkunde, kann sich an experimenteller Exaktheit mit irgendeiner naturwissenschaftlichen Disziplin messen.
Um mit Hilfe der historischen Hilfswissenschaften zu haltbaren Schlußfolgerungen zu gelangen, muß man ununterbrochen vergleichen, muß eines sich im anderen spiegeln lassen, und um das zu können, muß man vorab "verstehen", wie der Fachausdruck dafür lautet. Wer eine mittelalterliche Urkunde zum heutigen Nennwert nehmen wollte, also ihre – ohnehin mühsam genug zu entziffernden – Worte mit den Bedeutungen von heute auflüde, der wäre vollkommen aufgeschmissen, der hätte nicht die geringsten Einsichten in das, was einst wirklich passierte.
Notwendig ist also, die Urkunden (und natürlich auch die Überreste) in den Horizont ihrer Zeit zu rücken; doch wie wäre das möglich ohne ein vorgängiges Verstehen dieser Zeit? Und dieses Verstehen wiederum wird nur möglich durch lebendiges Sicheinfühlen. Das lebendige Sicheinfühlen rückt geradezu in einen transzendentalen Rang ein, erscheint dort, wo Kant einst sein transzendentales Ich plaziert hat.
Kants tranzendentales Ich, monierten die berühmten "Versteher", die "Hermeneutiker" vom Range eines Wilhelm Dilthey oder Hans-Georg Gadamer, war eine aus der Zeit geborene naturwissenschaftliche Fiktion, aufgerichtet, um widerspruchsfreie Sätze zu bilden. Selbst da, wo es – wie in der praktischen Vernunft – um Postultate zur Ermöglichung von Sittlichkeit ging, gewahrten Kant und seinesgleichen dort, wo doch in Wirklichkeit ein fühlendes, aus der Fülle des Lebens heraus entscheidendes Ich wohnte, immer nur abstrakt funktionierende logische Algorithmen.
Mit einer solchen Einstellung, meinte Dilthey, kann man keine realistischen Urteile fällen, geschweige denn Geschichtswissenschaft betreiben und historische Rekonstruktion leisten. Geschichte erklären wollen im Sinne der Naturwissenschaft hieße, Schneebälle zu rösten, Identitäten stiften zu wollen, indem man sie aufhebt, indem man sie auf etwas anderes reduziert, ein Gleichheitszeichen zwischen die einzelnen Phänomene setzend. Im geschichtlichen Zeittakt ist so etwas nicht möglich, da muß man sich einfühlen, da muß man verstehen.
Aber führt das Verstehenwollen nicht sofort in einen heillosen Zirkelschluß hinein? Ich kann ja nur unter der Voraussetzung verstehen, daß ich bereits verstanden habe. Dilthey und Gadamer umgingen den Zirkel, indem sie darauf hinwiesen, daß der menschliche Geist von sich aus ein sprachlich-geschichtliches Wesen sei, von der Erinnerung des ganzen Menschengeschlechts gebeizt und imprägniert und so in sie verwoben, daß es beim Rekonstruieren tatsächlich "nur" des eifrigen, einfühlsamen, von aller Ranküne gereinigten Verstehens bedürfe, um die "Quellen", die Überreste und sprachlichen Überlieferungen glaubhaft zusammenzuschließen.
Der Centurio im Varusschlacht-Museum liefert gewissermaßen die Probe aufs Exempel. Viele Wissenschaften trugen zu seiner Wiederauferstehung bei, nicht zuletzt die exakte Naturwissenschaft. Die plastischen Chirurgen mußten zu feinsten mechanischen Meßinstrumenten greifen, um ihre künstlichen Muskel- und Hautschichten exakt den für Laien kaum wahrnehmbaren Besonderheiten des Schädels anzupassen. Und viel chemisches Formelwissen war nötig, um die Farbnuancen herzustellen.
Keine Chemie und kein Meßergebnis indessen vermag von sich aus Auskunft zu geben über das, was auf dem Gesicht eines tapferen Offiziers im Augenblick seines Gefälltwerdens vorgeht. Die Vollendung, der "Thrill" der Veranstaltung, ihre Authentizität, verdankt sich ausschließlich hermeneutischer, übrigens auch künstlerischer, Einfühlung. Eine Rekonstruktion wäre nichts, wäre wirre Ansammlung beliebiger Relikte, ohne die zusammenfassende, tiefe und sinngebende Kraft verstehender Erinnerung.