In „Machtwechsel“ beschreibt Arnulf Baring den „seismographischen Charakter von Bundespräsidentenwahlen“. Für die Jahre 1949 bis 1979 hätten diese eine große atmosphärische Bedeutung gehabt. Diese Wahlen seien ein Barometer für die Stimmungslage der Nation. Bei der Kandidatensuche würden bewußt oder unbewußt die Grundströmungen in der Bevölkerung eine große Rolle spielen.
Vieles spricht dafür, daß etwa dreißig Jahre nach Erscheinen von „Machtwechsel“ diese Einschätzung immer noch zutrifft, doch eher um zu erklären, wieso die letzten beiden Bundespräsidenten beim Volk „nicht angekommen“ sind. Nach dem Rücktritt Horst Köhlers wurde Christian Wulff rein aus machtpolitischen Überlegungen heraus am 3. Juni 2010 gewählt. Ob er das Amt des Bundespräsidenten ausfüllen konnte oder nicht, spielte bei der Kandidatenwahl kaum eine Rolle. Viele hielten damals den Gegenkandidaten, Joachim Gauck, für den besseren. Mit Wulff zog zudem eine „Patchwork-Familie“ auf Schloß Bellevue ein. Unter diesen Umständen konnte Wulff gar nicht als Bundespräsident wirklich ernst genommen werden.
Nach Wulffs Rücktritt folgte am 18. März 2013 nun Joachim Gauck. Doch auch er blieb bis heute eine blasse Figur. Eine Symbiose zwischen Amt und Person ist nicht erfolgt, parteiübergreifende Identifikationsfigur ist er bis heute nicht geworden. Auch er brachte unregelmäßige Familienverhältnisse nach Schloß Bellevue. Der verheiratete Man lebt mit einer Lebensgefährtin zusammen.
„Wilde Ehe“ und „anderer Bahnsteig“ erzeugen keine Geborgenheit
Zum Zeitpunkt der Wahl meinten wohl viele Politiker, die Eheverhältnisse seien in unseren Tagen unwichtig. Das stimmt aber nicht. Der Familienreport 2012 des Bundesfamilienministeriums berichtet, daß sich drei Viertel aller jungen Deutschen eine Familie wünschen. Für 80 Prozent gehört Familie zum persönlichen Glück dazu.
Die Sehnsucht nach Familie geht mit der Sehnsucht nach Stabilität, klaren Verhältnissen und Verläßlichkeit einher. Die Deutschen sind ein Volk mit einem besonders stark ausgeprägten – fast pathologischen – Sicherheitsbedürfnis. Dieses Bedürfnis ist aufgrund von Eurokrise, Globalisierung und schwieriger zu planender Zukunft in den letzten Jahren immer größer geworden. Ein in „wilder Ehe“ lebender Bundespräsident konnte den Deutschen da kaum eine kuschelige Geborgenheit vermitteln.
Angela Merkel, deren politischer Instinkt oft unterschätzt wird, hat das offenbar erkannt und Forderungen innerhalb der Union nach Gleichstellung von Homo-Paaren und nach Adoptionsrecht durch Kristina Schröder, Matthias Zimmer und andere schnell und unmißverständlich mehrmals eine Absage erteilt. Zuletzt tat sie das zu Beginn des Frühjahrs 2013, also in einer Zeit, in der sich die Parteien thematisch für den Wahlkampf positionierten. Die Union sollte beim Thema Ehe und Familie nicht zerstritten im Wahlkampf auftreten.
Tendenziell konservative Atmosphäre
Bemerkenswert ist, daß auch SPD und Grüne diese Themen kaum während des Wahlkampfes aufgriffen, obwohl diese Parteien sogar eine Öffnung des Ehegesetzes für homosexuelle Paare befürworten. Die diversen Vereine von Homosexuellen haben sich auch zurückgehalten.
Sicherlich hatte das mit den gigantischen Demonstrationen in Frankreich gegen die Homo-Ehe zu tun. Obwohl die Politiker ein solches Ausmaß hierzulande nicht zu befürchten hatten, wollten sie offenbar nicht den Wahlkampf mit derart polemischen und polarisierenden Themen belasten. Auch zeigte die enorme Polemik gegen das „Orientierungspapier“ der EKD zur Familie, daß sich gegenwärtig das Interesse für gesellschaftsrevolutionäre Themen in Grenzen hält.
In dieser tendenziell konservativen Atmosphäre konnten die Grünen nur verlieren. In einer Zeit, in der die Menschen Sicherheit und Geborgenheit suchen, kamen die Grünen wie ein schriller Haufen daher, der mit irrsinnigen politischen Forderungen eine neue Republik ausrufen wollte. Die Pädophilie-Debatte zeigte dann nicht nur den moralischen Sumpf dieser Partei, sondern wie weit ideologische Verblendung führen kann. Die Grünen wurden als starrsinnige Fanatiker empfunden, die keine Skrupel bei der Durchsetzung ihrer verkorksten Ideen kennen.
Trotz Laisierung: Politik auf christliche Prinzipien stützen
Der absolute Kontrast dazu war Angela Merkel. Manche werfen ihr vor, sie sei die vollendete Pragmatikerin. Doch möglicherweise mögen sie gerade deshalb so viele Deutsche, wie die Meinungsumfragen zeigen. Merkel verkörpert für diese Menschen die „preußischen Sekundärtugenden“. Viele wollen, daß sich Politiker schlicht als „Diener des Staates“ beweisen. Jedenfalls schafften es Angela Merkel und die Union, sich als Garanten für Sicherheit und Stabilität zu präsentieren.
Welche politische Linie wird die Union unter diesen Bedingungen in den nächsten Jahren wählen? Die Christdemokraten verdanken ihren Wahlerfolg vor allem den Kirchenmitgliedern. 52 Prozent der Katholiken und 42 Prozent der Evangelischen haben Union gewählt. Falls die Union nicht gegen ihre eigene Basis regieren will, darf sie das nicht aus dem Auge verlieren.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. September 2012 widmete der Rolle des Christentums in Politik und Gesellschaft eine umfangreiche Analyse auf der Basis von Umfrageergebnissen des Instituts für Demoskopie Allensbach. Die Ergebnisse zeigen, daß das Christentum für die Mehrheit der Deutschen großen Einfluß haben sollte – auch für Menschen, die sich nicht als Christen empfinden! Die Tatsache, daß sich kontinuierlich dauerhaft viele Menschen von der Kirche abwenden, hat somit nicht im selben Maße zu einer Laisierung der politischen und kulturellen Ansichten geführt. „So wird auch der Gedanke, Politik auf christliche Prinzipien zu stützen, heute stärker akzeptiert, als man angesichts des Bedeutungsverlusts des Glaubens annehmen könnte“, urteilte die FAZ.
Insofern befindet sich die Union aufgrund der Koalitionsmöglichkeiten in einer sensiblen Situation. Falls sie sich dem Druck beugt, das „C“ weiter zu demolieren, könnte sie schnell ähnliches erleben wie zuletzt die FDP oder die Grünen.