„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ In der Gegenwart ausgesprochen, wirkt der lakonische Satz des Grundgesetzes wie ein zynischer Witz. Denn es ist doch offenkundig, daß Parteien die Willensbildung des Volkes nicht unterstützt, sondern schlechterdings ersetzt haben. Wer reinen Gewissens anderes behauptet, der lebt irgendwo, nur nicht in Deutschland.
Doch wie ist es dazu gekommen? Stellvertretend für alle anderen Parteien sei auf den Entwicklungsgang der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands eingegangen. Zunächst einmal muß man feststellen, daß die SPD – wie eigentlich jede politische Partei – aus einer sozialen Bewegung heraus entstanden ist. Es waren die Proteste der deutschen Arbeiter, die durch Selbstorganisation zu einer politischen Partei wurden.
Eine politische Partei ist aber etwas anderes als eine soziale Bewegung. Denn wenn Arbeiter ihre Forderungen erfüllt sehen, dann kehren sie ganz einfach wieder an ihre Arbeit zurück. Hat sich aber erst ein Parteiapparat herausgebildet, so ist dies nicht mehr so ohne weiteres möglich. Denn dieser hat inzwischen den Parteifunktionär herausgebildet. Ein Mensch also, der durch die Partei sein Auskommen hat.
Von einer sozialen Bewegung zur politischen Partei
Diese Umwandlung einer sozialen Bewegung zu einer politischen Partei hat aber gravierende Folgen. Forderte beispielsweise das Erfurter Gründungsprogramm von 1869 noch im wesentlichen politische Rechte für die Arbeiterschaft, die sich aus deren unmittelbaren Lebensumfeld ableiten lassen, so sind die folgenden Programme ideologischer ausgerichtet. Es müsse so und so gewirtschaftet werden und so weiter.
Umsichtige Leute haben schon damals auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Denn es hatte sich inzwischen eine Funktionärselite herausgebildet, die als Berufsrevolutionäre gar nicht so sehr die konkreten Verhältnisse berücksichtigen mußte, in denen sie nicht mehr lebte, sondern einer Ideologie gemäß handelte. Diese kann dann pragmatisch oder radikal ausgedeutet werden, potentiell lebensfremd bleibt sie dennoch.
Gemildert wurde diese beginnende Entfremdung zwischen der im Leben stehenden Arbeiterschaft auf der einen und der sozialdemokratischen Funktionärselite auf der anderen Seite dadurch, daß letztere dem gleichen Lebensumfeld entwuchs. Wenn ein August Bebel sagte, daß er aus seinem Leben heraus die Bedürfnisse des Arbeiters wisse, dann war das nichts Aufgesetztes, sondern es war die Wahrheit.
Entkoppelung von Funktionärselite und Arbeiterschaft
In dem Augenblick aber, wo die Verhältnisse so abstrakt werden, daß Funktionärselite und Arbeiterschaft den Kontakt verlieren, beginnt erstere ein Eigenleben zu führen. Was ist die treibende Kraft einer sozialen Bewegung? Es sind mit Leidenschaft erstrebte Ideale, die sich am konkreten Leben des einzelnen entzünden. Der Funktionär kennt jedoch diese Ideale nicht, da sein Leben abstrakt ist. Er kann nur von seiner Ideologie ausgehen.
Dadurch entsteht aber die entstellte Sprache des Parteifunktionärs, dieser ganze Begriffskatechismus, der nirgendwo von der Wirklichkeit berührt wird. Wie sollte er auch, wurden seine Begriffe doch nicht am wirklichen Leben gebildet. Sie sind nur die Destillate einer Ideologie, die von längst vergangenen Lebensverhältnissen abstrahiert wurde. Die Arbeiterschaft lebt inzwischen vielleicht ganz anders, nur der Funktionär sieht es nicht.
So lebt der Funktionär in einer Scheinwelt, die er sich mit den abstrakten Phrasen seiner Ideologie auskleidet. Keine Leidenschaft für ein soziales Ideal kann ihn überkommen. Was treibt ihn aber dann überhaupt noch vorwärts? Es ist der persönliche Egoismus. Er hat eine Partei, diese Partei ermöglicht ihm sein Auskommen. Andere sind in dieser Partei und haben auch ihr Auskommen, mit diesen arrangiert er sich.