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Von den Vielen, Allzuvielen

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Es herrscht in Deutschland eine gewisse Scheu davor, bestimmte Teile der Bevölkerung als überflüssig oder sogar sozial schädlich zu bezeichnen. Nicht ohne Grund, gehört es doch zu den durchgängigen Merkmalen totalitärer Gesellschaften, daß sie einen totalen Feind definieren. Ein Feind, der dazu dient, als entmenschte Projektionsfläche die Massen zu mobilisieren: „Schädling“, „Parasit“, „Schmarotzer“, „Ungeziefer“ – dazu noch Benennungen aus dem Fäkal- und Tierreich, das ist die Sprache des Totalitarismus.

Sicherlich, in dem Maße, in dem sich Deutschland wieder in eine totalitäre Gesellschaft verwandelt, brutalisiert sich auch die politische Sprache: „Abschaum“, „Dreck“, „braune Pest“ und natürliche das Allerweltsvehikel „Nazi“ – nichts ist heute leichter, als sich so öffentlich beschimpfen zu lassen, ohne daß selbsternannte Verteidiger der Demokratie stutzig werden. Aber doch, jenseits von dieser um sich greifenden Ideologisierung fürchtet man sich davor, Bevölkerungsgruppen so zu betrachten.

Dabei ist es menschlich etwas völlig natürliches, wenn man Teile der Gesellschaft für überflüssig hält. Jeder Mensch, wenn er nur ehrlich zu sich selbst ist, hat eine solche Liste von Personen im Kopf, deren Existenz er für die Gesellschaft als irrelevant betrachtet. Menschen, die einer Tätigkeit oder auch Nicht-Tätigkeit nachgehen, die für ihn sinnlos und ohne sozialen Wert erscheint. Und wenn diese dann Ressourcen verbrauchen, dann nennt er sie vielleicht nicht so, aber als „sozialer Schädling“ denkt er sie schon.

Welcher Teil der Bevölkerung ist unverzichtbar?

Nicht selten ist es dabei so, daß dieser „soziale Schädling“ einen selbst ebenso einschätzt. Der radikale Pazifist mag mit tiefer Verachtung auf das Militär blicken und davon träumen, was er alles an sinnvollen Dingen schaffen würde, wenn die öffentlichen Gelder nicht mehr in die Rüstung flössen. Umgekehrt wird der Soldat den Kriegsdienstverweigerer als jemanden betrachten, der die Früchte des Friedens nur genießt, aber nichts zu dessen Erhalt beiträgt. Das führt zu der Frage: Wer ist denn dann nicht überflüßig?

Stellen wir uns einfach einmal diese Frage: Welcher Teil der Bevölkerung ist so unverzichtbar, daß ohne ihn die Gesellschaft augenblicklich zusammenbrechen würde? Können wir uns eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft ohne „Kämpfer gegen Rechts“ vorstellen? Das ist leicht. Eine Gesellschaft ohne Polizei? Schon schwieriger. Aber ich kenne in Deutschland Gebiete, da gibt es keine Polizei mehr. Freiheitlich-demokratisch kann man diese Gesellschaft zwar schwerlich nennen, aber dennoch existiert sie.

Es gehört zur abstrakten Lebensweise der Gegenwart, daß wir über eine Antwort grübeln, die vor noch nicht allzu langer Zeit ausnahmslos jeder wußte: Es ist der Bauernstand, der für unsere Gesellschaft unverzichtbar ist. Auch heute, Jahrtausende nach der Seßhaftwerdung, brauchen wir alle den Bauern, der plügt, der sät und der die Ernte einfährt. Denn er ernährt uns mit. Wir allesamt sind für ihn im Grunde genommen eigentlich nicht viel mehr als Mäuse, die beständig seine Kornkammer leerräumen.

Grundbedingung der selbstgenügsamen Gemeinschaft

In der Tat, wer heute leichtfertig diese oder jene Bevölkerungsgruppe als überflüssig erachtet, dem könnte vielleicht etwas mehr Demut zu Gesichte stehen. Wer die Zeitung aufschlägt und sich über dieses oder jenes empört, sollte durchaus auch einmal von den kurzen Meldungen Notiz nehmen, die von den Belangen einer kleinen, kaum noch wahrgenommenen Gruppe berichten. Dann erhalten Schlagwörter wie „Hofsterben“, „Überlebenskampf“ und „Preisverfall“ möglicherweise eine neue Bedeutung.

Dann wird er vielleicht auch den Streit um das genmanipulierte Saatgut mit neuem Bewußtsein verfolgen. Denn was ihm die vielen Hochglanzbroschüren über sagenhafte Ertragssteigerungen und phantastische Möglichkeiten nicht erzählen – mit dessen massenhafter Einführung wäre die natürliche, an der Wiege jeder Hochkultur stehende Autarkie des Bauernstandes vernichtet. Denn dieses Saatgut ist steril. Wer es anbaut, ist nicht mehr länger Bauer, sondern Proletarier.

Aristoteles bezeichnete die selbstgenügsame Gemeinschaft als die Bedingung für das sittlich gute Leben des einzelnen wie der Gesamtheit. Doch um diese wäre es dann schlecht bestellt. Was übrig bleibt sind dann vielleicht nur noch Verteilungskämpfe der „Vielen, Allzuvielen“.

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