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Libyen: Zwischen Stamm und Staat

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Libyen: Zwischen Stamm und Staat

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In Libyen erleben wir in diesen Wochen, welch enorme Macht die Stämme haben. Der Staat zerfällt, weil sie die Machtfrage stellen. Der Konflikt dauert an, weil Ghaddafis Familie nicht schwach genug ist, um weggefegt zu werden. Und währenddessen kommt die Frage auf, was eigentlich nach dem libyschen Krieg passieren soll? Ein ehrliches Ziel wäre: Ein stabiles Libyen, das Öl liefert – und keine Flüchtlinge. Ein hehres, aber vorerst unrealistisches Ziel wäre: Die Etablierung einer Demokratie, die diesen Namen verdient hat.

Dieser Prozeß wäre wohl „langwierig“ und „von Rückschlägen“ gezeichnet, wie es Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik euphemistisch formuliert. Die Konkurrenz zwischen Stamm und Staat ist ein Phänomen, welches in Libyen nun mit aller Macht zu Tage tritt, aber wohl für ganz Europa mitsamt seiner Peripherie von immer größerer Bedeutung werden könnte.

Gewaltmonopol und Beamte notwendig

Für das Verhältnis zwischen den Stämmen und einem Staat lohnt ein Blick auf das Werden der westlichen Demokratie: Laut Max Weber war die „gewaltsame Herrschaft“ mit einem „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“ unabdingbar. Das setzte einen funktionierenden Verwaltungsstab und einen politischen Enteignungsprozeß voraus. Der Verwalter war also nicht mehr im Besitz des Verwalteten; er bestritt seinen persönlichen Unterhalt nicht mehr durch das verwaltete Gut. Vielmehr lebte er von Unterhaltszahlungen, die er von einer herrschenden Instanz erhielt. Sprich: Er wurde verbeamtet. Nur so war das Werden der westlichen Demokratie möglich.

Daraus ergab sich die Ausdifferenzierung, welche die technische, bürokratische, ökonomische und politische Überlegenheit des Westens bedingte. Gleichzeitig bedeutete sie aber auch den Abschied von der emotionalen, pathetischen oder abhängigen Bindung an den Fürsten, also den Abschied vom Grund für Treue. Der Nationalismus scheint als Ersatz für diese Bindung nur von vorübergehender Wirkung gewesen zu sein.

Vorstaatliche Patronage- und Stammesstrukturen

Die Stärke des bürokratischen Westens bedingt also gleichzeitig dessen Schwäche. Denn – wie zum Beispiel Thorsten Hinz in seinem Essay über die „Zurüstung zum Bürgerkrieg“ dargestellt hat – manche Zeitgenossen empfinden die Energie arabischer und türkischer Großfamilien (also Patronage- und Stammesstrukturen) in den europäischen Innenstädten als Bedrohung für die europäisch-christliche Kultur. Durch ihren Zusammenhalt und ihre familiäre Bindung ist sie der deutschen Vater-Mutter-Kind-Familie in mancher Hinsicht überlegen.

Aber: Wenn uns schon die Anwesenheit solcher großfamiliärer Strukturen in unseren Innenstädten wie eine Bedrohung, wie schleichende Islamisierung, wie das Ende des Abendlandes vorkommt; wie unermeßlich apokalyptischer muß einem libyschen Obergefreiten dann die – im wahrsten Sinne des Wortes sagenhafte! – Feuerwirkung der alliierten Luftstreitkräfte erscheinen?

Bürokratischer Staat versus Stammesgesellschaft

„Hier“ haben wir den bürokratischen Staat, „dort“ die Stammesgesellschaft. Nach Weber geht mit der Entwicklung des modernen Staates auch das Ende des „ständischen Verbandes“ einher, also bedroht die Bürokratie den Stamm und im Umkehrschluß der Stamm die Bürokratie. Jeder den anderen auf seine Weise. Das meint nicht den Stamm, der sich der Bürokratie unterordnet; das meint auch nicht den Stamm, der sich einer Bürokratie bedient, um sich selbst zu verwalten.

Es geht vielmehr um die Situation, in der die Machtfrage gestellt wird – siehe Libyen. Das heißt die Situation, in der das staatliche Gewaltmonopol die Loyalität zum Stamm bricht beziehungsweise die Loyalität zum Stamm in der Lage ist, sich über das Gewaltmonopol hinwegzusetzen. So wie uns die Energie einer archaischen Stammeskultur bedrohlich vorkommt, kann der Stammeskultur unsere technische, wissenschaftliche, ökonomische, politische Überlegenheit beängstigend vorkommen – zumal wir sie letztlich erst durch den Abschied von den archaischen Strukturen erlangen konnten.

Die Globalisierung hat zur Folge, daß so eine Feindschaft Grenzen überwindet. Es ist eben nicht mehr so, daß die Türken vor Wien stehen oder die Kreuzritter nach Jerusalem ziehen. Die jeweils andere Seite ist „hier“ wie „dort“ in vielfältigen (vornehmlich ökonomischen) Beziehungsformen zugegen. Also als Geschäftspartner, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Sozialhilfeempfänger, Entwicklungshelfer, Urlauber, natürlich auch als Missionar. Das heißt freilich nicht, dass die Bedrohung der jeweils anderen Struktur durch die eigene damit aufgehoben wäre. Der Kampf der Strukturen setzt sich unvermindert fort – nicht nur in Libyen.

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