Als ob ich sonst nichts zu tun hätte, ließ ich mich neulich dazu hinreißen, auf www.faceyourmanga.com einen „Mangatar“ von mir zu basteln (und weil’s so schön war, kamen einige Freundinnen und Freunde danach auch noch dran). Im Übrigen – so rede ich mich vor mir selbst heraus, wenn ich des Öfteren Zeit im Internet vertrödele –, hat auch der Philosoph Georg Simmel zum Beispiel die Formen von Tassenhenkeln kulturtheoretisch analysiert; auch am scheinbar Belanglosen gibt es also etwas zu entdecken.
Was ist nun ein Mangatar? Ein Comicfigürchen im japanischen Manga-Stil, das im Internet als „persönlicher Avatar“ fungiert. Etwas verwunderlich sind die religiösen Ursprünge der beiden Begriffe, aus denen das Wort „Mangatar“ zusammengesetzt ist: Ein Avatar ist im Hinduismus die Erscheinungsform einer Gottheit, ein göttlicher Heilsbringer, der in den großen mythologischen Dichtungen des alten Indien immer an der Wende zu einem neuen Zeitalter erscheint, und auch das Manga hat – was weniger bekannt ist – religiöse Wurzeln; zu den ältesten Vorläufern des japanischen Comics gehören Zeichnungen des buddhistischen Mönchs Sojo Toba aus dem zwölften Jahrhundert, in denen Mönche dargestellt werden, die sich nach Auffassung des Karikaturisten wie Tiere benehmen.
Mit Hilfe des Avatars in die virtuelle Welt herabsteigen
Das Verhältnis der göttlichen zur irdischen Sphäre im Hinduismus spiegelt sich in demjenigen unserer realen Welt zum Internet; wir haben uns unsere – virtuelle – Welt geschaffen, die wir allerdings immer mehr mit unserer bisherigen Realität vermischen, und wir „steigen“ in diese mit Hilfe unserer Avatare „herab“.
Was mich bei solchen Spielereien aber vor allem erstaunt, sind nicht so sehr diese – zweifellos interessanten – Analogien zum religiösen Bereich, sondern die Ähnlichkeiten, die sich mit Hilfe weniger „tools“ und „features“ herstellen lassen. Wir halten uns für völlig einzigartig, und es genügen rund zwanzig Nasen-, Augen- oder Mundformen, ein paar Augenbrauentypen, in verschiedene Richtungen verlaufende und, wie alles andere, ein wenig nach oben oder unten verschiebbare Fältchen, um ein recht treffendes Manga-Abbild zu kreieren.
Ich bin noch nicht ganz dahintergekommen, ob sich die Durchschnittsgesichter oder die „Charakterköpfe“ besser nachbauen lassen: Bei ersten läßt sich leicht Ähnlichkeit erzielen, bei letzteren ist der Wiedererkennungseffekt höher; und es ist auch ein Unterschied, ob bei diesen das Charakteristische in einzelnen auffälligen Merkmalen oder im Zusammenspiel vieler Aspekte besteht. Das Ausdruckshafte läßt sich, zumindest nach phänomenologischer und gestalttheoretischer Auffassung, angeblich nicht aus einzelnen Teilen rekonstruieren, da das Ganze stets unendlich über seine Teile hinausgeht; um so „erschrockener“ war ich, daß aber doch so mancherlei – schon bei einem Spielchen mit wenigen Elementen – möglich ist.
Verglichen mit einem Regenwurm ist uns der Frosch sehr ähnlich
Wie muß es erst sein, wenn Hunderte, Tausende oder Millionen Puzzleteile zur Verfügung stehen? Tatsächlich aber sind die Übergänge zwischen diesen in der Wirklichkeit fließend, und ihre Zahl verliert sich dadurch im Unendlichen. Die „klassische“ Phänomenologie könnte somit recht haben; etwas Ganzes ist nicht primär aus distinkten Einzelteilen aufgebaut, sondern wird beim Erkenntnisprozeß zerlegt, durch Benennung und Kategorisierung geordnet, und anschließend wieder zusammengesetzt.
Und wenn wir uns mit so wenigen Merkmalen wie bei „face your manga“ zufrieden geben, liegt es wohl an den geringen Erwartungen. Verglichen mit einem Regenwurm ist uns ja auch der Frosch sehr ähnlich – vom Affen nicht zu reden.