Bad Schandau ist der letzte Vorposten der Zivilisation, dahinter beginnt die Wildnis. Jedenfalls erschien es mir so, als ich neulich zu einer einwöchigen „4-Elemente-Quest“ für Männer, speziell für solche in Übergangsphasen, in der Sächsischen Schweiz gewesen bin.
Geleitet wurde die Selbsterfahrungsgruppe von dem Verleger Stefan Ulbrich, in dessen Arun-Verlag ich bislang zwei Bücher veröffentlicht habe, und dem auf schamanische Techniken spezialisierten Heilpraktiker Gerhard Popfinger. Schon seit Jahren bietet der naturreligiös orientierte Verleger „Visionssuche“-Seminare an; hier aber ging es um ein neuartiges, betont zeitgemäß und sportlich ausgerichtetes Konzept, das mit mir und vier anderen „Probanden“ – oder „crash-test-dummies“, wie ich zunächst unbegründeterweise fürchtete – seine Generalprobe erlebte.
Wir Büchermenschen, Schreibtischtäter und Internetjunkies wurden also durch Feuer, Wasser, Erde und Luft gescheucht, um bei wohldosierten und einigermaßen risikoarmen, aber doch „kribbeligen“ Grenzerfahrungen unsere gesellschaftlich oft in Frage gestellte und lädierte Männlichkeit zu spüren (und wo nötig aufzufrischen).
Sprung aus 3.000 Metern Höhe
Das Feuer vertrat die aus dem indianischen Kulturkreis stammende Schwitzhütte, über die Popfinger jüngst das erste deutschsprachige Buch im Arun-Verlag veröffentlicht hat: ein Zelt, das über einer Mulde errichtet wird, in die man in einem Feuer erhitzte, glühende Steine legt. Das Prinzip ähnelt, abgesehen von den kultischen Zusammenhängen, in die es bei den Indianern eingebunden ist, der europäischen Sauna; jedoch glaubt sich der Ungeübte in dem engen, durch mehrere Lagen dicker Decken und Teppiche nach außen abgedichteten Raum während der gewöhnlich mehrere Stunden dauernden Zeremonie recht bald dem Erstickungstod nahe.
Das Wasser zeigte sich in einer Wildwasseranlage, die wir, behelmt und mit Neoprenanzügen bekleidet, in Kajaks befuhren, von seiner „spritzigen“ und „umwerfenden“ Seite; durch die Erde wanden wir uns, in voller Länge auf dem Bauch kriechend und durch enge Spalten zwängend, in einer Höhle, in die wir uns zuvor – was mir besonders zuwider war – rund zwanzig Meter tief abseilen mußten; und der Luft begegneten wir durch einen Sprung aus einem ehemaligen sowjetischen Militärflugzeug, das heute einem Fallschirmspringerverein dient. Wir waren zwar mit dicken Karabinerhaken an einem „Tandem-Master“ eingehängt, aber eine gewisse Überwindung kostete der Sprung aus rund 3.000 Metern Höhe trotzdem.
Freilich wurde man dafür durch das schwer zu beschreibende Wechsel(Luft-)Bad von freiem Fall, bei dem man mit bis zu 200 Stundenkilometern wie durch einen brausenden, zischenden Tunnel dem Erdboden entgegenrast, und „seligem Schweben“ belohnt. Letzteres ist nur Erfahrungen vergleichbar, die man aus Träumen kennt, und ich fragte mich, woher sie uns denn im Traum so eigentümlich vertraut sind, wenn wir uns doch niemals zuvor frei schwebend durch die Lüfte bewegt haben.
Räucher- und Schminkzeremonie im Wald
Nicht nur hier ließen sich spirituelle Fragen anknüpfen; sie kamen auch bei den Gesprächen und Ritualen rund um das indianische Medizinrad, das von Ulbrich und Popfinger mit Elementen der germanisch-keltischen Tradition frei verbunden wird, nicht zu kurz – und erst recht nicht bei der Abschlußveranstaltung, der eigentlichen „Quest“, bei der man sich 24 Stunden lang im Wald aufhielt: auf einem selbstgewählten Platz, den man während dieser Zeit nicht verlassen sollte, sitzend, dabei fastend, meditierend, den Lauf der Sonne beobachtend oder in das nächtliche Dunkel lauschend.
Für einen Tag und eine Nacht schien mir hinter Bad Schandau nicht nur die Wildnis, sondern sogar das Totenreich zu beginnen, genauer gesagt, hinter der Kirschnitz, einem Flüßchen, an dem sich die „Initianden“ um fünf Uhr morgens einfanden, um über eine schmale, hölzerne Brücke zu gehen und nach einer Räucher- und Schminkzeremonie im Wald zu verschwinden.
„Eigentlich“ hat man ja keine Angst im Dunkeln; gefährliche Tiere gibt es kaum noch, und selbst die allenfalls Respekt einflößenden Wildschweine sind harmlos, wenn sie nicht gerade Frischlinge bei sich haben – und doch spürt der Zivilisationsmensch, wenn er nachts auf dem Waldboden kauert und auf einmal ganz viel Zeit hat, Bewußtseinsschichten, die in selten ausgelotete Tiefen reichen.