Nationale Identität werde heutzutage durch Kino geprägt, glaubt Stefan Hug. Durch Mythen von tapferen Kriegern, die jugendlichen Action-Fans als Identifikationsidole zur Verfügung stünden. Auch in dem Punkt habe Amerika es eindeutig besser. Dafür sorgten stählerne Leinwandhelden von „Rambo“ bis „The Patriot“.
Ergo die Empfehlung, das Identitätsproblem hiesiger Jugendlicher durch neue Heldenepen „made in Germany“ zu therapieren. Wo, fragt sich der Autor, blieb denn im Jubiläumsjahr der Hermannschlacht das dreistündige Breitwandepos über Arminius? Amerika hätte sich bei einem solchen Jubiläum gewiß nicht lumpen lassen.
Nun ist hier kein Beitrag zur Blog-Debatte beabsichtigt, in der Martin Lichtmesz Stefan Hugs Hollywood-Bild als einseitig kritisierte: Den amerikanischen Heldenepen ließe sich eine große Zahl an Antikriegsfilmen gegenüberstellen. In der Tat laufen in der dortigen Filmproduktion unendlich viele Menschenbilder parallel: vom hirnamputierten Rambo bis zum treudoofen Verlierer Forrest Gump.
Dem Heldenepos abgeschworen
Abgesehen von den Schwierigkeiten, produktionstechnisch mit Hollywood-Standards zu konkurrieren, bleibt es fraglich, ob die Form amerikanischer Heldenepen auf Deutschland überhaupt anwendbar ist. Zunächst fällt auf: Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa hat dem Heldenepos weitgehend abgeschworen.
Wann entstand beispielsweise das letzte französische Heldenepos über Napoleon? Nach dem kommerziellen Flop „Napoleon, vu par Abel Gance“ (1927) zeigen Franzosen ihn nur noch zwiespältig oder gebrochen. Auch England oder Portugal verzichten weitgehend auf nationale oder internationale Action-Helden. Spanien widmet seine erste 40 Millionen-Euro-Produktion „Agora“ (2009) nicht etwa Francesco Pizarro oder Lope de Aguirre, sondern der antiken Philosophin Hypatia.
Aber wie sollte es auch anders sein? Wie könnte Europa, das im 20. Jahrhundert gleich zweimal in Schutt und Asche lag, denselben Heldentyp kreieren wie die USA, die sich bis vor kurzem noch als Supermacht fühlen durften?
Ohne „große Individuen“
Wenn das Leben nach Selbstrealisations- und Ausdrucksformen sucht, ist es gut beraten, Mißerfolgsmodelle nicht erneut zu aktivieren. Ohnehin bedarf es zur Identitätsstiftung keiner Heldenfigur. Das beweist Brasilien, dessen literarisches Nationalepos „Os Sertoes“ (Krieg im Sertao, 1902), in unterschiedlichen Medien adaptiert, völlig ohne „große Individuen“ oder glorifizierte Volksgruppen auskommt.
Nein, Identitätsbildung ist komplexer. Akzeptiert man diese Prämisse, stellt man fest, daß auch hierzulande Heldenfilme im Umlauf sind. Nur feiern die keine großen Eroberer mehr, sondern die Widerständler, Schöpfer von Freiräumen und oft genug Frauen.
Barbara Sukowa beispielsweise, deren „Rosa Luxemburg“ (1985) zum Kinoerfolg wurde, kam dieses Jahr vielbeachtet als Hildegard von Bingen auf die Leinwand. Die mittelalterliche Mystikerin schuf eine Aussteiger-Nische innerhalb engster Herrschaftspyramiden. Julia Jentsch füllte vor fünf Jahren die Kinos als „Sophie Scholl“ (2005), deren Leben bereits in „Die weiße Rose“ (1982) erfolgreich verfilmt wurde. Auch „John Rabe“ (2009) geht in diese Richtung.
Größenwahn und Eindimensionalität
An Stauffenberg- und Lutherfilmen („Luther“, 2003, deutsche Co-Produktion) hat es in den letzten Jahren weder im Kino noch im Fernsehen gemangelt. Oder man bannte Künstlerbiographien auf Zelluloid, wie die über Lale Andersen („Lili Marleen“, 1980), Robert und Clara Schumann („Frühlingssinfonie“, 1982), Clemens von Brentano („Requiem für eine romantische Frau“, 1998) und Marlene Dietrich („Marlene“, 1999).
Der Anti-Held Kaspar Hauser wurde innerhalb von zwanzig Jahren gleich zweimal zum Kinoheroen, in Werner Herzogs „Jeder für sich und Gott gegen alle“ (1974) und in „Kaspar Hauser“ (1993) von Peter Sehr. Sogar der Serienmörder Fritz Haarmann geriet in Ulli Lommels „Zärtlichkeit der Wölfe“ (1976) und in Romuald Karmarkas Anti-Actionfilm „Der Totmacher“ (1995) zur Identifikationsfigur, deren Scheitern für das Versagen einer ganzen Epoche stand. Die Liste ließe sich noch lange fortführen.
Aber das jugendliche Publikum rennt doch in die amerikanischen Actionfilme! – Das stimmt, allerdings besteht der Genuß nicht nur in der „Action“, sondern auch in der ironischen Distanz, die die Zuschauer als Nichtamerikaner zum Stoff haben. Weil man den Größenwahn und die Eindimensionalität ihrer Helden nicht auf sich beziehen muß. Arminius als eine Art deutscher Rambo würde hiesigen Jugendlichen kaum schmecken. Eben weil er nicht (mehr) zum eigenen Geschichts- und Selbstbild paßte .