Seit zehn Tagen wieder dort, wo ich bereits die letzten zehn Sommer
verbracht habe: In einem spartanischen Bauernhaus in Südfrankreich. Es steht auf einem Hügel und ist von mächtigen Eichen und Ginsterbüschen umgeben. Vorn blickt man 150 Meter tief ins Dorf hinunter, hinten liegen mehrere Bergketten terrassenartig hingebreitet – erdgeschichtlich die allerletzten Ausläufer der Alpen.
Wohl dem, der die Hausbesitzer (alt-linke Schweizer Ex-Ökos ohne Tunnelblick) zu seinen Bekannten zählt. Ihnen ist es hier im Sommer zu heiß. Weil sie immer noch nicht nach Profit streben und ihr Feriendomizil einfach nur in guten Händen wissen wollen, habe ich in diesem Haus insgesamt schon länger als ein Jahr gewohnt.
Jedesmal, wenn ich ankomme, bin ich schlagartig ganz und gar da, als wäre ich höchstens eine Woche fortgewesen. Es ist wie die Rückkehr in die Kindheit. Zugegeben, in meinem Heimatdorf in Vorpommern strahlte der Himmel nicht halb so blau, war der Zikaden- und Grillengesang nicht annähernd so reich orchestriert, das mittägliche Sonnenlicht bei weitem nicht so gleißend wie hier, doch gerade weil die Kindheitswelt in der Erinnerung stets strahlender, prachtvoller, größer erscheint, wird sie hier zur Wirklichkeit.
Die Hauswände sind fast einen Meter dick, damit die Hitze draußen bleibt. Sie ruhen auf einem schweren Fundament aus Feldsteinen, das tief in die Erde eingelassen ist. Dennoch erzittern sie bei Gebirgsgewitter wie bei einem Bombenangriff. Ich bin auf einen kleinen Weltempfänger und Solarstrom beschränkt und natürlich ohne Fernseher. Die Internetverbindung ist wacklig, der Computer uralt. Einmal am Tag rufe ich Perlentaucher, Google news und die „E-mails“ ab. Damit ist die Kapazität erschöpft. Das Idyll ist nicht unumstritten. Auf einem Schild am Ortseingang stellt
sich das Dorf als „Dorf Europas“ vor.
Distanz zum Alltag
Das erinnert mich an eine kleine Bahnstation zwischen Rostock und Stralsund, wo bis 1989 auf einem Transparent verkündet wurde: „Hier arbeitet ein vorbildliches Schrankenwärterkollektiv“. Es ist der symbolische Obolus für die EU-Subventionen, mit denen elegante Schweinemastanlagen in die fast noch heile Landschaft geklotzt werden. Betonwahn, willkommen!
Jedes Jahr verschwinden Platanen, dafür wurde einer der beiden Dorfplätze mit Betonkübeln ausgestattet, aus denen Grünpflanzen sprießen. Die deutsche Fußgängerzone läßt grüßen. Vor zwei Jahren wurde in ihrem Haus, das mitten in einem Sonnenblumenfeld liegt, eine Nachbarin von einem ortsfremden, durchgedrehten Jura-Absolventen umgebracht. Nur ganz kurz dachte ich daran, daß mein Haus sich noch viel einsamer befindet.
Ruhezeit, Wanderzeit, Lesezeit; Zeit, um die Zeitentschleunigung und die Distanz zum Alltag, gerade auch dem politischen, wieder einzuüben. Hier habe ich die dicken Romane von Proust, Musil, Stifter, Raabe, Uwe Johnson und – ja, auch die – von Grass gelesen. Stets dabei sind Bücher von Balzac. Mit der „Menschlichen Komödie“ bin ich fast fertig. Daneben reichlich Zeitgeschichte und politische Theorie – zum Aufmunitionieren!