Man stelle sich vor: Wladimir Putin, auf Vergnügungsreise ins westliche Ausland, muß wegen Triebwerkschadens auf dem Flughafen Berlin-Brandenburg zwischenlanden. Seine Maschine wird von schwerbewaffnetem SEK umstellt, jeder Widerstand der russischen Sicherheitsleute im Keim erstickt und der „Raschist“ in Handschellen die Gangway hinabgezerrt, während das Blitzlichtgewitter der über den Coup informierten Pressevertreter gar nicht enden will.
So oder so ähnlich muß der Tagtraum von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) aussehen, der nach dem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Putin erklärt hat, daß man den russischen Staatspräsidenten wegen seiner Kriegsverbrechen im Ukrainekonflikt nun jederzeit festnehmen könne.
Der Kommentar des Bundeskanzlers, er begrüße die Entscheidung des IStGH, da niemand über Recht und Gesetz stehe, wirkt verglichen damit vorsichtig. Bei genauerer Betrachtung offenbart er aber doch ein erstaunliches Maß: entweder an Abgefeimtheit oder an Naivität.
Ersteres vorausgesetzt, täuscht Scholz eine Auffassung vor, um sich der Zustimmung von Meinungsmachern wie Masse der Bevölkerung zu versichern. Allerdings weiß Scholz sehr genau, daß es Menschen gibt, die über Recht und Gesetz stehen, die wegen ihrer Machtstellung tabu sind und trotz ihrer Verbrechen nie eine Gefängniszelle von innen sehen.
Es gibt nicht viele Möglichkeiten, um Putin zu bestrafen
Das ist ein wenig erfreulicher Sachverhalt, aber im nationalen und selbstverständlich im internationalen Rahmen beobachtbar. Was auch erklärt, warum man im Haag bisher nur eineinhalb Dutzend afrikanischer Warlords und Menschenschlächter hat verurteilen können, die vorher militärisch besiegt wurden und das Pech hatten, keine Staatsangehörigkeit – die russische, die chinesische, die indische, die türkische, die israelische oder die amerikanische – zu besitzen, die sie verläßlich vor dem Zugriff des Tribunals schützt.
Damit schrumpft die Menge der Möglichkeiten, unter denen die Verhaftung und Bestrafung Putins denkbar wären, dramatisch. Immer vorausgesetzt, daß die Bundesaußenministerin nur geplappert hat, als sie davon sprach, daß wir uns mit Rußland „im Krieg“ befinden. Aber wahrscheinlich handelte es sich um eine Art Freudschen Versprecher, ausgelöst durch jene Prägung der deutschen Kollektivpsyche, die allen Ernstes meint, daß es eine „Weltgemeinschaft“ gibt, die den „Weltfrieden“ zu garantieren vermag.
Die Äußerungen des Kanzler sind naiv
Womit wir zur Deutung des Kanzlerworts als Ausdruck von Naivität kommen. Deren Ursache hätte man in der Annahme zu suchen, daß nur eine Sphäre moralischen Handelns existiert. Dessen Regeln ergeben sich dann aus dem, was Arnold Gehlen „Kleingruppenmoral“ genannt hat. Die Kleingruppenmoral sorgt dafür, daß unser Alltagsleben funktioniert, indem wir nicht stehlen, nicht lügen, nicht töten. Damit ist ungefähr umrissen, was die Zweite Tafel der Zehn Gebote besagt, deren Geltung aber nie für Stiftung oder Erhalt einer politischen Ordnung gedacht war.
Die Schilderungen der Bibel sprechen da eine deutliche Sprache. Die „Landnahme“ der Hebräer in Kanaan bedeutete nichts anderes als Invasion und gewaltsame Besetzung, die Art, wie Gottes Liebling David seinen Lehensherrn, den Philisterfürsten Achis von Gad, systematisch täuschte, war Voraussetzung für das Wiedererstehen des Königtums in Israel, die regelmäßige Verhängung der Todesstrafe – vor allem bei Verstößen gegen die Gebote der Ersten Tafel – diente dem Schutz einer labilen Rechtsordnung.
Struktur des Politischen bleibt immer von Gegensätzen geprägt
Das feststellen, bedeutet nicht, dem „sacro egoismo“ der Nationen das Wort reden oder die Amoral der Politik behaupten. Es geht vielmehr darum, daß in der Politik andere moralische Prinzipien gelten als im Privatleben. Was auch bedeutet, daß der, der der Staatsmoral zu folgen hat, besondere charakterliche Anforderungen erfüllen und sich in besonderen Tugenden üben muß. Man hat das einmal „Staatsklugheit“ genannt, und zu der gehört als erstes die Einsicht, daß die Struktur des Politischen immer von Gegensätzen geprägt bleibt.
Die lassen sich nicht aufheben, etwa durch die Schaffung einer Globalrepublik, die ein global geltendes Recht gegen jedermann vollstrecken könnte. Wer so redet, als ob das doch möglich oder wenigstens wünschenswert wäre, schädigt das Rechtsbewußtsein, wer so handelt, als ob es hier um ein praktisch erreichbares Ziel geht, wird Folgen heraufbeschwören, die er nicht unter Kontrolle halten kann.