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Ausharren um jeden Preis?: Leidens-Kalkulationen: Eine Gegenrede zum Ukraine-Krieg

Ausharren um jeden Preis?: Leidens-Kalkulationen: Eine Gegenrede zum Ukraine-Krieg

Ausharren um jeden Preis?: Leidens-Kalkulationen: Eine Gegenrede zum Ukraine-Krieg

Das umkämpfte Mariupol: Ausharren wofür? Foto: picture alliance / AA | Stringer
Das umkämpfte Mariupol: Ausharren wofür? Foto: picture alliance / AA | Stringer
Das umkämpfte Mariupol: Ausharren wofür? Foto: picture alliance / AA | Stringer
Ausharren um jeden Preis?
 

Leidens-Kalkulationen: Eine Gegenrede zum Ukraine-Krieg

Der Westen schaut mit Bewunderung auf die Ukrainer, die sich gegen die russische Übermacht wehren. Doch welche strategischen Hintergedanken spielen dabei eine Rolle? Was gewinnt die Ukraine durch ihren hinhaltenden Widerstand, an dessen Ende kaum der Sieg stehen wird? Ein Kommentar von Thorsten Hinz.
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Die Lage der Stadt Mariupol ist hoffnungslos. Trotzdem hat die Regierung in Kiew die Kapitulation und den angebotenen Abzug der – entwaffneten – Militärangehörigen abgelehnt. Dringend benötigte Hilfstransporte werden weiterhin keinen Zugang erhalten, Zivilisten und Soldaten wird die Fortsetzung der humanitären Katastrophe zugemutet, das Leiden wird weitergehen. Was ist der Sinn dieses Opfergangs?

Die wahrscheinlichste Erklärung lautet: Die Horror-Bilder und -Meldungen aus der Stadt sind die stärkste Waffe der ukrainischen Führung in diesem Krieg und daher unverzichtbar. Wie soll man dieses Kalkül nennen? Tapfer? Verzweifelt? Selbstzerstörerisch? Und weiter: Ist nicht die ganze Ukraine längst ein riesiges Mariupol?

Jedenfalls kann sie der russischen Übermacht auf die Dauer nicht standhalten. Mit seinem Befehl zur Invasion hat Wladimir Putin eine brutale Grundsatzentscheidung getroffen, aus der sich eine brutale Handlungslogik ergibt. Die russische Führung wird ihr – auch aus Gründen des Selbsterhalts – so lange folgen, bis sichergestellt und verbrieft ist, daß die Ukraine sich keinem westlichen Bündnissystemen anschließt. Bis dahin wird der Krieg weitergehen. Ein militärisches Eingreifen der Nato kommt bekanntermaßen nicht in Frage.

Die Krim bleibt russisch

Ob die Wirkung der Boykottmaßnahmen die Leidensfähigkeit und -bereitschaft der russischen Bevölkerung übersteigt, ist nach aller historischer Erfahrung fraglich. Bereits die Waffenlieferungen der Nato bergen in sich die Gefahr der Eskalation, denn Rußland sieht ihnen nicht tatenlos zu. Flugplätze und Verbindungswege werden angegriffen, was den Krieg in die westlichen Landesteile bis dicht an Nato-Gebiet trägt.

Am Ende wird wohl stehen, daß die Ukraine sich neutral erklärt – wie schon in der ersten Verfassung nach der Unabhängigkeitserklärung – und weder der Nato noch der EU beitritt. Mit diesem Modell war Finnland während des Kalten Krieges recht gut gefahren. Und die Krim bleibt so russisch wie Schlesien heute polnisch ist.

Doch wird Rußland aus der geopolitischen Konsolidierung kaum Profit ziehen können. Der Sieg wird sich weitgehend als ein Pyrrhus-Sieg herausstellen. Putin hat sich den Krieg ganz anders gedacht. Er hat den schnellen Zusammenbruch der Ukraine erwartet und ihren Widerstandsgeist unterschätzt. Moralisch und propagandistisch hat er längst verloren. Die ökonomischen, politischen, kulturellen, sozialen Einbußen Rußlands sind riesig. Sie werden das Land über Jahrzehnte beschäftigen.

Der Westen feiert ukrainischen Heldenmut

Am weitaus schlimmsten aber trifft der Krieg die Ukraine. Es ist ein bettelarmes Land mit einer zerstörten Infrastruktur, einer darniederliegenden Wirtschaft und einer traumatisierten, millionenfach auf der Flucht befindlichen Bevölkerung.

Die politischen Bemühungen müßten sich allerseits darauf richten, den Krieg, der für die Ukraine nicht zu gewinnen ist, so schnell wie möglich durch einen ehrenvollen Waffenstillstand zu beenden, um das Leid zu stoppen. Der Westen feiert den Heldenmut der ukrainischen Kämpfer, aber was wissen wir denn, was sie bewegt und wie viele von ihnen lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende herbeisehnen und sich von ihrer Führung zum Heldentum verdonnert, vulgo: verheizt fühlen?

Erich Ludendorff, der „starke Mann“ der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg, war weiß Gott, was man einen „harten Hund“ nennt und unterm Strich eine Negativ-Figur, aber als er die deutsche Niederlage als unabwendbar erkannt hatte, drängte er auf den Waffenstillstand. Seine damalige „Handlungsweise (war) die eines verantwortungsbewußten Patrioten, der sich in der Niederlage das Ziel setzt, seinem Land das Schlimmste zu ersparen und zu retten, was zu retten ist“ (Sebastian Haffner, „Anmerkungen zu Hitler“).

Führen Ukrainer einen Stellvertreterkrieg?

Wozu also die Fortsetzung des Krieges? Die mögliche Aufklärung kommt aus Übersee. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama („Das Ende der Geschichte“) hat in der NZZ vom 18. März unter der Überschrift „Nur eine Niederlage der russischen Truppen kann das Gemetzel stoppen“ seine strategischen Überlegungen in zwölf Thesen zusammengefaßt.

Der Text enthält vier zentrale Gedanken:

Fukuyama spekuliert, daß die Ukrainer die Russen besiegen werden. Und zwar rechnet er mit einem plötzlichen Zusammenbruch der desorganisierten russischen Armee. Ein direktes Nato-Engagement lehnt er ab und setzt auf die Lieferungen von Waffen, Kampfdrohnen, Stinger-Raketen und Kommunikationsausrüstungen. Ob er wirklich an ein abruptes Kriegsende glaubt oder insgeheim nicht doch auf einen Abnutzungskrieg setzt, sei dahingestellt. Wichtig ist als Konsequenz der – gewiß zutreffende – Gedanke, daß Putin einen Mißerfolg des Feldzugs politisch nicht überleben wird. Insofern führen die Ukrainer auch einen Stellvertreter-Krieg für den „Regime-Change“ in Rußland.

Zweitens richtet Fukuyama den Blick auf die Innenpolitik in den westlichen Ländern. Den putinfreundlichen „Populisten in aller Welt“ – Salvini, Le Pen, Orban, Zemmour, Trump und anderen – habe die Invasion bereits einen enormen Ansehensverlust beschert; der anhaltende Krieg rücke ihre „autoritären Tendenzen nochmals ins Rampenlicht“.

Fukuyamas Kalkül ist zynisch

Drittens deutet er den zähen Kriegsverlauf als Abschreckungs-Lektion für China, das ein Auge auf Taiwan geworfen hat. Offenbar sind die Russen zu keinen komplexen Luftlandeoperationen fähig; das gilt auch für die unerfahrene chinesische Armee, die sich eine Invasion nun zweimal überlegen wird.

Viertens schließlich steigert der Kampf der Ukrainer das Selbstgefühl des Westens. Unter Punkt 12 schreibt Fukuyama: „Eine russische Niederlage wird eine ‚Wiedergeburt der Freiheit‘ ermöglichen, und sie wird den Blues vom Niedergang der globalen Demokratie vertreiben. Der Geist von 1989 wird weiterleben, dank den mutigen Ukrainern.“

Und wie ergeht es dabei den als Helden Gefeierten? Sie erscheinen als die Objekte fremder Berechnungen. Unter Punkt 6 heißt es lapidar: „Die Kosten, die die Ukraine zu tragen hat, sind selbstverständlich enorm.“ Fukuyamas politische Kosten-Nutzen-Kalkulation ist weder tapfer noch verzweifelt. Sie ist zynisch.

Das umkämpfte Mariupol: Ausharren wofür? Foto: picture alliance / AA | Stringer
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