Anzeige
Anzeige

Reaktionen auf Thüringen: In einer geschlossenen Anstalt

Reaktionen auf Thüringen: In einer geschlossenen Anstalt

Reaktionen auf Thüringen: In einer geschlossenen Anstalt

Kemmerich
Kemmerich
Björn Höcke (AfD) gratuliert Thomas Kemmerich (l., FDP), zur Wahl als Thüringer Ministerpräsidenten Foto: picture alliance/Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa
Reaktionen auf Thüringen
 

In einer geschlossenen Anstalt

„Politische Schande“, „Tabubruch“, „Dammbruch“, „Kulturbruch“, „Zivilisationsbruch“: Die Hysterie nach dem Wahlvorgang in Thüringen kennt kaum Grenzen. Doch der gegenwärtige Irrsinn ist Ausfluß einer langfristig angelegten Wahrnehmungs- und Urteilstrübung. Ein Kommentar von Thorsten Hinz.
Anzeige

Aus sämtlichen Parteien, Medien und Körperschaften links der Mitte, also von der Linkspartei bis zur CSU, von taz bis FAZ, von der Landeskirche bis zum DGB, brauste nach der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten vergangene Woche ein einheitlicher Ruf wie Donnerhall durchs Land: „Politische Schande“, „Tabubruch“, „Dammbruch“, „Kulturbruch“. Höher ging’s nimmer? Doch, es ging!

Auch der „Zivilisationsbruch“, der bis dahin für den Holocaust reserviert gewesen war, wurde bemüht. Kemmerich sei „ein Ministerpräsident der Faschisten“, tönte es. Der frustrierte Amtsvorgänger Bodo Ramelow, im Wahlkampf um bürgerlich-zivile, ja präsidiale Anmutung bemüht, fiel in die Rolle des antifaschistischen Rumpelstilzchens zurück und veröffentlichte auf Twitter ein Hitler-Zitat samt zweier Fotos: eines mit Hitler, der Reichspräsident Paul von Hindenburg die Hand schüttelt, und eins von dem thüringischen AfD-Chef Björn Höcke, der Kemmerich zur Wahl als Ministerpräsident gratuliert.

Der für Politik zuständige FAZ-Herausgeber machte sich die Deutung zwar nicht wortwörtlich zu eigen, doch sein grundsätzliches Einverständnis mit dem linken Wüterich war unverkennbar. Ramelows bisheriger Staatskanzlei-Chef hielt Kemmerich sogar vor, er sei „ein Ministerpräsident von Gnaden derjenigen (…), die Liberale, Bürgerliche, Linke und Millionen weitere in Buchenwald und anderswo ermordet haben“. Ein ZDF-Chefredakteur warf die Formulierung „Endstation Buchenwald“ in die Runde, offenbar in Unkenntnis darüber, daß Kommunisten das KZ Buchenwald nach 1945 weiterbetrieben und viele Tote zu verantworten haben.

Der öffentliche Raum gleicht einer geschlossenen Anstalt

Die hysterische Rede über Erfurt knüpft direkt an die Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz an. Auf den zivilreligiösen Rosenkranz der in einfacher Sprache formulierten Warnungen und Lehren („Tätervolk! Kein Schlußstrich! Nie wieder!“) sind in diesem Jahr zwei neue Knospen gefädelt worden: „Tätersprache“ und „dasselbe Böse“. Das sind durchweg keine Begriffe, die für Erkenntnis und Klarheit sorgen und über die sich sinnvoll diskutieren ließe. Es sind affektive Wort-hülsen und magische Formeln, die jenen Anti-Nazi-Voodoo konstituieren, der nach der Wahl des armen FDPlers erneut losgebrochen ist.

Der Schriftsteller Uwe Tellkamp hat kürzlich sein Wort vom „Gesinnungskorridor“ dahingehend korrigiert, daß es in Wahrheit nur noch „enge Wände“ gebe. Selbst diese Beschreibung klingt mittlerweile wie eine Beschönigung. Denn auch enge Wände lassen einen Zwischenraum, eine öffentliche Sphäre, die den Austausch konträrer An- und Einsichten ermöglicht, aus dem gemeinsames Handeln im Geiste der Pluralität erwächst.

Der sogenannte öffentliche Raum von heute gleicht vielmehr einer geschlossenen Anstalt. Eine Zeit lang vermag die darin herrschende Polyphonie einen gewissen Pluralismus vorzutäuschen. Bei genauem Hinhören vernimmt man jedoch einen mehrstimmigen Chor, dessen Mitglieder in unterschiedlichen Tonlagen durchweg denselben Irrsinn skandieren. Wer bei Verstand ist, dem bleibt nur der stille Rückzug.

Der Kollektivirrsinn übertrifft die Mechanik der von der Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann beschriebenen Schweigespirale bei weitem. In Noelle-Neumanns Modell verschweigen viele Menschen – die eventuell sogar die Mehrheit bilden – ihre wirkliche Meinung und machen sich politisch ohnmächtig, weil die Medien ihnen suggerieren, daß sie sich mit ihrer Einstellung hoffnungslos in der Minderheit befinden. Immerhin handelt es sich um einen begrenzten, durch rationales Kalkül motivierten Vorgang.

Verdrängtes Wissen um die Selbstlüge

Der gegenwärtige Irrsinn ist hingegen Ausfluß einer langfristig angelegten Wahrnehmungs- und Urteilstrübung, in welche die Beteiligten sich wissentlich und willentlich hineingesteigert haben. Ein wichtiges Motiv ist das Bedürfnis, Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Handelns zu unterdrücken. Das Gefühl und das Wissen, dabei einer Mehrheit – der Mehrheit der „Anständigen“ – anzugehören, entlastet von der Gewissensnot, die dem verdrängten Wissen um die Selbstlüge entspringt. Darüber hinaus dient die Verteufelung des Gegners der eigenen Sinnstiftung. So ist der auf dem Titelblatt des Spiegel zum „Dämokrat“ stilisierte Björn Höcke eine Projektion, die ein politisch-mediales Sinnvakuum füllen soll.

In seinem 1932 erschienenen Buch „Der Massenwahn. Ursache und Heilung des Deutschenhasses“ beschrieb der Sozialpsychologe Kurt Baschwitz solche Erscheinungen als Folge von einschneidenden Ereignissen im inneren oder äußeren Staatsleben. Konkret ging es Baschwitz um die im Ausland grassierende Abneigung gegen die Deutschen, die mit dem Ende des Krieges 1918 kein Ende gefunden hatte. Der Friedensschluß von Versailles war ganz vom Geist des Krieges geprägt und Ausgangspunkt anhaltender Spannungen. Die Einsicht, falsch gehandelt zu haben, verletzte jedoch das Selbstbild der Siegermächten so sehr, daß sie an dem Wunsch festhielten, „glauben zu dürfen, daß das Opfer schuld, daß sie infolgedessen gerechtfertigt seien“.

Baschwitz wollte diese Konstellation, die ganz Europa gefährdete, aufbrechen helfen, indem er sie beschrieb. Kurz danach kam Hitler an die Macht, der nach dem Motto agierte: „Ist erst mal der Ruf ruiniert, lebt sich‘s völlig ungeniert.“ Die NS-Verbrechen schienen sämtliche Feindpropaganda zu bestätigen. Anders als nach dem Ersten waren nach dem Zweiten Weltkrieg keine inneren Abwehrkräfte mehr vorhanden, so daß die negativen Kollektivzuschreibungen immer tiefer ins Zentrum der Selbstwahrnehmung eindringen konnten, wo sie zu der masochistischen Kollektivmoral geführt haben, die sich seit 2015 in der irrationalen Willkommenskultur abfeiert.

Praktizierter Sadismus als seelischer Ausgleich

Die AfD als organisierte Form des Widerstand stellt deshalb neben der politischen vor allem eine existentielle Herausforderung dar. Der Versammlung der „Anständigen“ ergeht es wie dem Untersuchungsrichter im „Fremden“ von Camus, der durch die Einlassungen des Angeklagten Meursault eine Ahnung der eigenen absurden Existenz bekommt und losschreit: „Wollen sie, daß mein Leben keinen Sinn hat?“

Natürlich sind sich Politiker, Journalisten, Gewerkschafter, Kirchenvertreter im Klaren darüber, daß die AfD dem gefährlichen Bild, das sie von ihr zeichnen, überhaupt nicht entspricht. Sonst würden sie sich gemäß ihrer masochistischen Moral ganz anders verhalten: genauso samtpfötig, ängstlich und unterwürfig, wie sie sich gegenüber Islamisten oder dem Clan-Wesen geben. Was sie ihren mutigen „Kampf gegen Rechts“ nennen, ist praktizierter Sadismus als seelischer Ausgleich. Die wirkliche „Schande“, sie liegt hier!

JF 8/20

Björn Höcke (AfD) gratuliert Thomas Kemmerich (l., FDP), zur Wahl als Thüringer Ministerpräsidenten Foto: picture alliance/Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa
Anzeige
Anzeige

Der nächste Beitrag