Jürgen Habermas gehört zu den meistgelesenen Soziologen und Philosophen der Gegenwart. Seine Werke wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Nacheinander geformt durch Heidegger und Lukács, den Marxismus-Hegelianismus der Frankfurter Schule sowie durch Wittgenstein und die analytische Sprachphilosophie, bewegt er sich seit sechzig Jahren in den Brennpunkten fachspezifischer Debatten.
Gegen Habermas’ fachspezifisches Werk – um mit „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962), „Erkenntnis und Interesse“ (1968), „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) und „Faktizität und Geltung“ (1992) die bedeutendsten zu nennen – mag man Einwände erheben; aller Ehren wert sind seine Theorien und Theorieansätze allemal. Auf seiner „Habenseite“ steht auch die frühzeitige, kritische Analyse von „68“, insbesondere der Vorwurf, Teile der Studentenbewegung transportierten einen „linken Faschismus“ (1967).
Um so mehr irritiert die Tatsache, daß sich der „Herr der Großdebatten“ (Die Zeit) bei politischen Wortmeldungen im Gestrüpp eines banalen Mainstream-Utopismus verheddert. Einen prägnanten Überblick gab kürzlich Thorsten Hinz. „St. Jürgens Reich der Politik ist nicht von dieser Welt“, resümiert Hinz. In der Tat, der Philosoph ist längst zum gefeierten Hohepriester aller politisch korrekten Feuilletonisten von Zeit, FAZ und Süddeutscher Zeitung avanciert.
„Gestiefelte nationalistische Parolen“ der AfD
Aktuelles Beispiel ist sein Aufsatz „30 Jahre danach: Die zweite Chance“ in der September-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik, zu deren Herausgebern er gehört. Die AfD überzieht Habermas mit Eruptionen linksdrehender Geschwätzigkeit: „Gestiefelte nationalistische, rassistische und antisemitische Parolen“; „nackt auftretender, ethnozentrisch gefärbter Nationalismus“. Das kommt dabei raus, wenn man von den Höhen der Kommunikationstheorie in die Niederungen der Demagogie herabsteigt.
Kernthema des Habermas-Aufsatzes sind „Merkels europapolitische Kehrtwende und der innerdeutsche Vereinigungsprozeß“. Er lobt die Kanzlerin und De-facto-Parteivorsitzende für ihre Attacke gegen die Thüringer Ministerpräsidentenwahl im vergangenen Februar. Durch Merkels Forderung, die Wahl „rückgängig zu machen“, sei die CDU vom Ballast weiteren Umwerbens von AfD-Wählern befreit und könne jetzt unbeirrt die politische Einheit Europas ins Visier nehmen. Der Anfang sei mit einem großen Schritt in Richtung Schuldenunion gemacht. Mit neuem Schwung hätten Merkel und Macron das 750-Milliarden-Euro-Hilfsspaket der EU auf den Weg gebracht.
Eine merkwürdige Ambivalenz konstatiert Habermas mit Blick auf die AfD. Einerseits sei die Partei dank Merkels „Kehrtwende“ parlamentarisch und politisch auf lange Sicht ausgegrenzt. Andererseits sei sie Nutznießer einer „faktisch vollzogenen politischen Anerkennung einer Partei rechts von der Union“. Ihre Rolle als Opposition sei damit gestärkt, und AfD-Wähler würden mitsamt ihrem EU-kritischen „gestiefelten Nationalismus … als demokratische Mitbürger ernst genommen“.
Strapaziöse Dauerpropaganda
Das Lob für Habermas kam prompt und heftig. „Politik kann wieder progressiv sein“, jubelt Patrick Bahners, Feuilletonschreiber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor einigen Tagen. Habermas habe mit seinem „dialektischen Denkmodell Anerkennung durch Ausgrenzung“ Merkels Strategiewechsel in seiner ganzen Tragweite überhaupt erst sichtbar und damit politisch belastbar gemacht.
Nur, stimmt das auch? Womöglich werden sich Merkel-CDU und Söder-CSU ihrer „Progressivität“ nicht lange erfreuen. Die Deutungshoheit des Mainstreams in Sachen EU beruht nicht zuletzt auf der Legitimationsressource Hypermoral. Dem Wähler wird vorgegaukelt, die Anständigen würden sich pro EU und die Unanständigen contra EU verorten. Der Preis dieses Trugbilds ist strapaziöse Dauerpropaganda. Auch Meinungskrieger wie Habermas verschleißen irgendwann, wenn sie den argumentativen Diskurs durch ein Trommelfeuer dröhnender Metaphern ersetzen.
Ohnehin sind die von ihm halluzinierte „Geburt einer europäischen Öffentlichkeit“ und der ersehnte EU-Bundesstaat nur Etappenziele. Habermas’ historisches Großnarrativ kreist um Weltbürgertum und Weltstaat. Damit mag er bei den „Anywheres“ punkten, einem grün angehauchten Segment kosmopolitischer Globalisierungsgewinner, die Heimat, Vaterland und Nation als verstaubte Requisiten aus der politischen Mottenkiste belächeln (David Goodhart, The Road to Somewhere, 2017).
Mehrheitsfähig wird seine Vision dadurch aber nicht. Habermas kompromittiert sich gleich doppelt − erstens als unglaubwürdiger Streiter für eine Demokratie mit herrschaftsfreiem Diskurs, deren breiten Meinungskorridor er durch Ächtung rechter und konservativer Positionen gleich wieder verengt, und zweitens als Bannerträger einer Demokratie ohne Demos, die ähnlich inhaltsleer daherkommt wie die berüchtigte „Rechtswissenschaft ohne Recht“ (Leonard Nelson, 1917).