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Der Maßnahmenstaat triumphiert im Ausnahmezustand: Er greift jetzt durch

Der Maßnahmenstaat triumphiert im Ausnahmezustand: Er greift jetzt durch

Der Maßnahmenstaat triumphiert im Ausnahmezustand: Er greift jetzt durch

Ein Polizist überwacht eine Straßensperre während der Corona-Demonstrationen am 29. August in Berlin Foto: picture alliance/SULUPRESS.DE
Ein Polizist überwacht eine Straßensperre während der Corona-Demonstrationen am 29. August in Berlin Foto: picture alliance/SULUPRESS.DE
Ein Polizist überwacht eine Straßensperre während der Corona-Demonstrationen am 29. August in Berlin Foto: picture alliance/SULUPRESS.DE
Der Maßnahmenstaat triumphiert im Ausnahmezustand
 

Er greift jetzt durch

In der Corona-Krise zeigt der Maßnahmenstaat seine Krallen. Er schränkt die Möglichkeiten der Bürger ein, gegen die Corona-Verordnungen der Bundesregierung zu protestieren. Statt kritisch zu berichten, folgen die Medien der Politik. Ein Kommentar von Thorsten Hinz.
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Die staatliche Corona-Politik und insbesondere der Umgang mit der Querdenker-Demonstration Ende August in Berlin sind geeignet, das Paradigma des sogenannten Doppelstaates zu bestätigen und zu aktualisieren. Entwickelt wurde es von dem Juristen Ernst Fraenkel in seinem 1941 erschienenen gleichnamigen Buch. Der Doppelstaat besteht aus dem Maßnahmen- und dem Normenstaat.

Fraen­kel definierte sie so: „Unter Maßnahmenstaat verstehe ich das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist; unter Normenstaat verstehe ich das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen.“

Die Willkür des Maßnahmenstaats äußerte sich im kurzfristigen Verbot der angemeldeten Demonstration durch die Versammlungsbehörde. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD, früher SED) kommentierte den Beschluß unter Hinweis auf eine vorangegangene Demonstration wie folgt: „Ich bin nicht bereit, ein zweites Mal hinzunehmen, daß Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten mißbraucht wird. Ich erwarte eine klare Abgrenzung aller Demokratinnen und Demokraten gegenüber denjenigen, die unter dem Deckmantel der Versammlungs- und Meinungsfreiheit unser System verächtlich machen.“

Geisel rückt die Corona-Demonstranten in die Nähe politischer Kriminalität

Nachdem Kritik laut geworden war, erklärte Geisel dem Spiegel, es habe sich um eine persönliche Anmerkung gehandelt. Der Satz sei nicht Teil der Verbotsverfügung. Er hätte das Recht, eine politische Haltung zu haben und diese auch zu äußern. Auf die Entscheidung der Behörde habe dies keinen Einfluß gehabt.

Die Sätze standen jedoch im amtlichen Zusammenhang, und zwar in der Presseerklärung der Senatsverwaltung des Inneren, dem Landesministerium. Sie faßten zusammen, was seit Beginn der Corona-Kampagne als politischer Wille der rot-rot-grünen Landes-Exekutive und der schwarz-roten Bundesregierung erkenn- und nachweisbar ist. Die Behauptung, diese anhaltend und deutlich vorgetragene Absicht der höchsten Bundes- und Landesinstanzen hätte keine Auswirkung auf die Entscheidungen der nachgeordneten Verwaltung, ist abwegig.

Der Senator machte das Demonstrations- und Versammlungsrecht von der politischen Opportunität und Gesinnung abhängig, wie es in Diktaturen geschieht. Seine Kennzeichnung der mutmaßlichen Demonstranten bestand aus Suggestiv-, Diffamierungs- und Stigmatisierungsformeln. „Corona-Leugner“ stellt eine Assoziation zu „Holocaust-Leugnern“ her und rückt die Teilnehmer in die Nähe politischer Kriminalität. Die Bezeichnung „Rechtsextremisten“ ist ein öffentliches Stigma, wegen ihrer uferlosen Ausweitung aber ohne sachlichen Gehalt. Die „Reichsbürger“ wiederum sind eine besondere, sektenhafte Minderheit.

Zielen die Corona-Maßnahmen auf politisch-ideologischen Effekt?

Bemerkenswert war weiterhin, daß Geisel statt vom Staat vom „System“ sprach, das es vor Verächtlichmachung zu schützen gelte. Der Begriff wird umgangssprachlich zur Bezeichnung eines ideologischen Überbaus benutzt, der bestrebt ist, mit seinen Dogmen den Staat zu transzendieren. In der Bundesrepublik handelt es sich um den „Kampf gegen Rechts“.

Wenn Kritik an den Corona-Maßnahmen als Angriff auf das „System“ behandelt wird, heißt das im Umkehrschluß, daß die Maßnahmen weniger auf den medizinischen, dafür um so mehr auf den politisch-ideologischen Effekt abzielen, eben auf die Durchsetzung und Perfektionierung des „Systems“. In diesem Sinne kleidete Verfassungsschutzpräsident Haldenwang die Verdammung der „Neuen Rechten“ in medizinisches Vokabular und bezeichnete sie als „Superspreader von Haß, Radikalisierung und Gewalt“.

Wenn Kritik an den Corona-Maßnahmen als Angriff auf das „System“ behandelt wird, heißt das im Umkehrschluß, daß die Maßnahmen weniger auf den
medizinischen, dafür um so mehr auf den politisch-ideologischen Effekt abzielen.

Grüne besetzen Führungsposten in Sicherheitsbehörden um

Gegen den Maßnahmenstaat stehen die Beharrungskräfte des Rechts- beziehungsweise Normenstaates. Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg hoben das Verbot selbstredend auf und erlaubten die Demonstration unter der milden Auflage, daß die Abstandsregelung eingehalten würde.

Der Maßnahmenstaat nutzte daraufhin seine administrativen Möglichkeiten, um die Anordnung des Normenstaates zu konterkarieren. Bereits im Vorfeld hatte ein grünes Mitglied des Landesparlaments in einem Zeitungsinterview siegesgewiß verkündet: „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht. Bei der Feuerwehr, der Polizei, der Generalstaatsanwaltschaft und auch beim Verfassungsschutz. Ich hoffe sehr, daß sich das in Zukunft bemerkbar macht.“

Tatsächlich war das Vorgehen der Polizei gegenüber den gewaltlosen Demonstranten auf Behinderung und Eskalation angelegt und stand im augenfälligen Gegensatz zur Deeskalationsstrategie, die bei Demonstrationen der militanten linken Szene angewandt wird. In verschiedenen Berichten – auch der JUNGEN FREIHEIT – wird geschildert, daß Nebenstraßen abgesperrt wurden, um den Zustrom weiterer Teilnehmer zu verhindern.

Berichterstattung der Medien legitimiert das Vorgehen der Polizei

Gleichzeitig sorgten Blockaden für einen Stau des Demonstrationszuges, so daß die Menge sich verdichtete und der Abstand, zu dem Ordner immer wieder aufforderten, nicht mehr eingehalten werden konnte. Von Zeit zu Zeit wurden Absperrgitter geöffnet, um sich absolut anlaßlos, nach Kameratauglichkeit ausgewählte, kräftig aussehende junge Männer zu greifen und wegzuschleifen.

Die Maskenpflicht wurde angeordnet, von der im OVG-Urteil nicht die Rede gewesen war und die nach Lage der Dinge gar nicht erfüllt werden konnte, was wiederum den Vorwand zur Auflösung lieferte. Recht und Gesetz wurden formal eingehalten, aber Sinn und Zweck der Gerichtsurteile ins Gegenteil verkehrt. Die Echtzeit-Berichterstattung der Medien – sowohl der öffentlich-rechtlichen als auch der meisten privaten – unterstützte und legitimierte das Vorgehen, indem sie den Eindruck eines aggressiven, die öffentliche Sicherheit gefährdenden Mobs verbreitete. Höhepunkt der parteiischen Berichterstattung waren die ikonographisch in Szene gesetzten Bilder des grotesken „Reichstagssturms“.

Im Fahrwasser der medial erzeugten Erregung wurde in Berlin für Demonstrationen mit mehr als 100 Teilnehmern die Maskenpflicht eingeführt. Sie kann auch nachträglich verordnet werden, wenn während der Veranstaltung zum Verstoß gegen den Infektionsschutz aufgerufen wird. Das macht eine Neuauflage der Proteste vom 29. August in der Hauptstadt unmöglich. Denn statt den Widerspruch zur Corona-Politik des Staates würde sie absurderweise die eigene Unterwerfung demonstrieren und das „System“ stärken. Die Teilnehmer würden kollektiv und individuell in den Zustand der kognitiven Dissonanz und des Selbstwiderspruchs hineingezwungen – eine öffentliche Entwürdigung durch Vorführung eigener Ohnmacht und Psycho-Folter.

Der Maßnahmenstaat handelt willkürlich, aber nicht anarchisch

Der Maßnahmenstaat existiert nicht in reiner Form. Er schafft den Normenstaat nicht ab, sondern triumphiert über ihn, indem er die Auslegung der Normen sukzessive an sich zieht. Er handelt willkürlich, aber nicht anarchisch. Willkür bezeichnet ein staatliches Handeln, das rechtlich nicht haltbar ist und bei dem sich „der Schluß aufdrängt, daß (es) auf sachfremden Erwägungen beruht“, wie es in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2009 heißt.

Sachfremd heißt keineswegs ziel- und regellos. Die Umsetzung eines politisch-ideologischen Programms bedarf ganz im Gegenteil klarer Regeln. Es läßt sich in Kürze wie folgt umreißen: Die deutsche Schuldgemeinschaft büßt ihre historischen Sünden, indem sie ihre Transformation zu einer multikulturell aufgesiedelten, zahlungswilligen Verwaltungseinheit eines Brüsseler Überstaates betreibt.

Rechtlich ist demnach, was politisch zweckmäßig ist und – in der Bundesrepublik ebenso wichtig – moralisch für gut befunden wird. Die Willkür wird sukzessive zur Norm. Die Norm bezeichnet in der Folge keinen Freiraum mehr, in dem der einzelne sich legal bewegt, sondern zielt auf seine Erziehung ab und legt ihn auf ein ganz bestimmtes, normiertes Verhalten fest.

Medien sind Vollzugsorgane des Maßnahmenstaates geworden

Das ist der qualitative Schritt, der über die Postdemokratie hinausgeht. Ihr Theoretiker Colin Crouch versteht darunter das formale Fortbestehen der demokratischen Institutionen und Prozeduren, die aber nur noch eine Fassade abgeben. Der „aktive Staat“ zieht sich aus seinen Aufgaben zurück, er verschwindet. Crouch kritisierte die Tendenz, „Fragen der Bildung oder der Gesundheit (…) nicht länger als Gegenstände konkreter Maßnahmen“ zu begreifen und die Gestaltung des Gemeinwesens mächtigen Lobbygruppen zu überlassen. Die Politik sei „selbst Teil des Problems der Macht der ökonomischen Eliten geworden“.

Der Maßnahmenstaat hingegen ist überaus aktiv und ergreift immer mehr „konkrete Maßnahmen“. Er vermittelt zwar keinen Kultur- und Bildungskanon, dafür betreibt er unter dem Titel „Demokratieerziehung“ die ideologische Indoktrinierung. Die Volksgesundheit wird nachgerade zum politischen Schlachtfeld und dient als Begründung, um tief in die öffentliche und private Lebenswelt einzudringen und sie neu zu formen. Das wirtschaftliche, kulturelle, gesellschaftliche und soziale Leben wurde im Zuge der Corona-Bekämpfung lahmlegt, unter Kontrolle gestellt und in staatliche Abhängigkeit versetzt.

Die Medien sind weitestgehend zu Vollzugsorganen des Maßnahmenstaates geworden. Die öffentlich-rechtlichen waren es ohnehin, aber auch die privaten, denen bereits zuvor die ökonomische Basis – das Anzeigengeschäft – weggebrochen war und die durch „Corona“ erst recht auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, haben sich nahtlos in ihre Funktion eingefügt.

Propaganda und Zwang werden weiter praktiziert

Die Wirkung ist um so nachhaltiger, weil das gesellschaftliche Leben wochenlang durch das „Social Distancing“, die Kontaktlosigkeit, bestimmt wurde, das die Menschen zu isolierten Nomaden machte. Die Möglichkeit der direkten Kommunikation und der sinnlich-konkreten Erfahrung wurde ausgeschaltet, die Realitätsvermittlung ging fast vollständig an die Medien über.

Die Distanz-Regeln wurden inzwischen gelockert, doch die Kombination aus Propaganda und Zwang wird weiter praktiziert. Der Staat bestimmt, in welcher Zahl, unter welchen Umständen und Bedingungen die Menschen miteinander in Kontakt treten und in welcher Weise sie gemeinsam handeln dürfen. Der Soziologe Armin Nassehi rechtfertigte die Mund-Nasen-Masken als „Sinnbild für unser ganz normales urbanes Alltagsverhalten“ und als eine „Zivilisierungsübung“.

Für Riad oder Abu Dhabi mag das zutreffen, doch in Europa sind sie ein Zeichen kultureller Selbstentfremdung und politischer Unterwerfung. Die Kanzlerin redet denn auch davon, die „Zügel“ gegebenenfalls wieder anzuziehen, weil „konsequent die Regeln durchgesetzt werden müssen“. Der politisch-mediale Komplex begreift sich als Dressur-Elite und betrachtet den atomisierten Demos als willfährige Masse. Genau das ist der tiefere, politische Grund der Proteste.

Wie kann Widerspruch aussehen?

Die Gesundheitspolitik ist das Mittel, das Medium, nicht der Zweck der Übung. Der deutete sich in der Vision einer „Transformation von gigantischem historischem Ausmaß“ an, die Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum in einem Anfall von Größenwahn ausbreitete. Der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble äußerte sich in der Bild-Zeitung nüchterner, in der Sache jedoch ähnlich: Die Bewältigung der Pandemie „wird große Veränderungen mit sich bringen. Positiv dabei: Wir können jetzt Dinge verändern, die wir in der Vergangenheit gerne geändert hätten, es aber nicht konnten oder wollten. Darin liegt die Chance.“ Es ist die Chance völliger Handlungsfreiheit für staatliche Maßnahmen, ohne mit Kontrolle und Widerstand rechnen zu müssen, die der 78jährige Christdemokrat am Ende seines langen politischen Lebens abfeiert.

Wie kann man gegen ungewollte „Veränderungen“ noch Widerspruch einlegen, wenn Proteste im öffentlichen Raum „wegen Corona“ nicht mehr möglich sind? Leserbriefe schreiben, die keiner liest? Alle vier, fünf Jahre zur Wahl gehen, bei denen am Ende doch bloß wieder Merkel, Schäuble & Co. herauskommen? Die Einhaltung von Normen einklagen, die der Maßnahmenstaat anschließend nach seinem Gutdünken auslegt? Hoffen, daß er unter der Last seiner Aporien und angerichteten Schäden Einsicht zeigt oder zusammenbricht?

Auch Ernst Fraenkels Buch entläßt den Leser bloß mit Allgemeinplätzen: „Der Doppelstaat ist die notwendige politische Erscheinungsform einer an Spannungen reichen Zwischenperiode. Wie sich die Spannungen lösen werden, hängt letztlich von uns selbst ab.“

JF 40/20

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