Die offene Debatte findet heute vor allem auch online statt. Früher pflegten Gentlemen in geschlossenen Salons bei Whisky und Zigarre den kultivierten Austausch. Doch für eine Demokratie kann dies nicht genug sein. Jeder Wähler muß an der Debatte teilnehmen können. Das Internet hat das ermöglicht.
Doch die früher in geschlossenen Runden geäußerten Meinungen sind nun für eine breite Öffentlichkeit sichtbar. Das erfüllt die nicht-elitäre, aber um so selbstgerechtere, grünlinke Meinungsavantgarde mit Abscheu. Dort geht die These von einer angeblich neuartigen Verrohung des Diskurses.
Union und SPD für Zensur sozialer Netzwerke
Die Gegenthese: Der Diskurs war nie anders, bloß für die Meinungsavantgarde unsichtbar. Denn die hat sich in ihrer eigenen bunten Phantasiewelt eingerichtet und den Kontakt zum Stammtisch, also: zum normalen Bürger, verloren. Nicht die Meinungseliten sollten sich über den Stammtisch empören, sondern der Stammtisch über die Distanz der Diskurswächter.
Besonders wenn diese Elite die Lebenswirklichkeit der Menschen nicht akzeptieren, nicht einmal tolerieren, sondern wegzensieren will. CDU, CSU und SPD haben das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) als Gesetz zur Zensur sozialer Netzwerke eingebracht. Sie haben es in ihren jeweiligen Bundestagsfraktionen beschlossen. Nicht die SPD allein, sondern alle gemeinsam.
Nicht nur Gerichte sollen über Meinungen entscheiden
In panischer Wählertäuschung versucht sich die Union nun durch eigene Vorschläge von der SPD künstlich zu distanzieren. Aber: Mitgefangen, mitgehangen. Denn wie die SPD wollen auch CDU und CSU nicht, daß – wie bisher – ausschließlich Gerichte über den Verstoß einer Meinung gegen eine Strafvorschrift entscheiden.
Nur das wäre in einem Rechtstaat richtig. Sie wollen die Netzwerke selbst verpflichten, also Privatunternehmen. CDU/CSU wollen das gleiche Ziel durch „Freiwillige Selbstkontrolle“ erreichen, die mit den Sichtungs- und Löschaufgaben betraut ist. Das ist eine Art Behörde, finanziert von den sozialen Netzwerken.
Es geht um die Zensur von „Hate Speech“
Mit anderen Worten: Der Union geht es nicht um das „Ob“ der Zensur, sondern nur um das „Wie“. Wenn jemand mündlich beleidigt, muß sich der Beleidigte an die Gerichte wenden. Bis zur Entscheidung bleibt offen, ob die Beleidigung tatsächlich strafwürdig ist. Wenn eine Zeitung Verleumdungen druckt, ist der Anspruch gegen die Zeitung im Klageweg durchzusetzen.
Das kostet Zeit und Geld. Aber nur das wird der Bedeutung des betroffenen und elementar wichtigen Grundrechtes auf freie Meinungsäußerung gerecht. Und bei Online-Äußerungen soll dies plötzlich anders sein? Hier muß nach dem Willen der Koalition kein Gericht befaßt, aber gleichwohl gelöscht werden – und das auch noch sofort. Denn es geht um mehr als bloße Beleidigungen oder Richtigstellung falscher Fakten. Es geht vor allem um „Hate Speech“.
Die Meinungsavantgarde verliert ihre Deutungshoheit
Das ist ein Codewort für jede Meinungsäußerung, die gegen die „Political Correctness“ verstößt und die Diskurs-Vorherrschaft der Meinungsavantgarde gefährdet. Das NetzDG soll Meinungsdynamiken verhindern.
Heute haben wir es mit einer Inkongruenz der Geschwindigkeiten zu tun: hier das schnelle Internet, wo Beiträge in den sozialen Netzen viral gehen und in wenigen Stunden Millionen Empfänger erreichen können, dort die Meinungsavantgarde, deren Diskurskontrolle bei „Bild, BamS und Glotze“ lange Zeit relativ gesichert war und die zur Aufrechterhaltung ihrer Deutungshoheit nun den mühsamen Weg über überlastete Gerichte nicht gehen mag.
Im Zweifelsfall immer löschen
Sorgfältige Verfahren dauern ihre Zeit und können das Anschwellen von Meinungs-Rinnsalen, die als Gegenstrom den Mainstream gefährden, nicht unterbinden. Das ist der eigentliche Grund für die Umgehung der Justiz und kurzen die Löschfristen.
Im Zweifel wird Facebook löschen, um seine Haftung zu vermeiden, insbesondere bei schwierigen Rechtsfragen. Experten halten beispielsweise den Straftatbestand der Volksverhetzung für so kompliziert, daß es für Laien ausgeschlossen sei, Einzelfälle gerichtsfest entscheiden zu können. Facebook wird das nicht leisten können.
Das Internet als Debattenraum geplant beschädigt
Das NetzDG gibt den sozialen Netzen überdies nur die Prüfung des objektiven Tatbestands auf. Ein Strafgericht würde jedoch zusätzlich Vorsatz, Rechtswidrigkeit und Schuld feststellen müssen. Ein überschießender Eingriff in den verfassungsrechtlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist vorgezeichnet – und exakt so vom NetzDG geplant.
Dadurch wird das Internet als Debattenraum beschädigt. Das NetzDG zielt nur vorgeblich auf strafrechtlich Relevantes. Es nimmt in Kauf, daß der Graubereich von nur möglicherweise unzulässigen Äußerungen zum Kollateralschaden wird. Dabei sind unterschiedliche Sichtweisen für die offene Debatte in einer Demokratie unentbehrlich. Der Graubereich ist der Ort, wo Regierungskritik geäußert wird, die auch grenzwertig sein können muß.
Aufgeheizte Debatte ist Reaktion auf Regierungsversagen
Es ist daran zu erinnern: Die aufgeheizte Debatte ist eine Reaktion auf das andauernde Regierungsversagen – nicht erst seit der Flüchtlingskrise. Das NetzDG wird nicht die Haltung der Menschen ändern, die kritisch gegenüber Mainstream und Regierung sind. Es wird sie lediglich zum Schweigen bringen.
In einem demokratischen Rechtsstaat ist es der einzige gangbare Weg, Kritik im Zweifel zu ertragen statt sie zu unterdrücken. Deswegen müssen wir wie bisher auf die Gerichte zur Entscheidung der Zweifelsfälle vertrauen. Wenn wir das breite Meinungsspektrum nicht erhalten, stehen wir mit einem Bein in der Grauzone des Totalitarismus – wie es die DDR erlebt hat.
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Beatrix von Storch ist EU-Abgeordnete und stellvertretende Bundesvorsitzende der AfD.
JF 23/17