Im Dezember 2022 beginnt Aserbaidschan, die einzige Verbindung zwischen der armenischen Republik Arzach im Kleinen Kaukasus und dem armenischen Kernland zu blockieren. Seitdem bricht die Versorgung der 150.000-Seelen-Region Berg-Karabach Stück für Stück zusammen. Die JF hat mit einem Fotografen, David Ghahramanyan, gesprochen, der sich mitten in der Hauptstadt der Zwergrepublik, Stepanakert, befindet. Er redet über das Schlangestehen, den aserbaidschanischen Beschuß – und seine Hoffnung.
Herr Ghahramanyan, Stepanakert und die Republik Arzach sind seit Dezember 2022 von der Außenwelt abgeschnitten. Sie befinden sich derzeit in der Stadt – wie ist die Stimmung dort?
David Ghahramanyan: Die Stimmung in Stepanakert ist derzeit aus verschiedenen Gründen ziemlich angespannt. Zunächst einmal, weil der Latschin-Korridor, der unsere einzige Landverbindung in unsere Heimat Armenien ist, derzeit illegal von Aserbaidschan blockiert wird. Außerdem wächst die Sorge wegen der Entführungen, die in jüngster Zeit an den aserbaidschanischen Kontrollposten auf der Paßstraße stattfinden.
Vielleicht haben Sie bereits von dem Vorfall am 28. August gehört, als eine Gruppe Studenten, die von den russischen Friedenstruppen von Arzach nach Armenien transportiert wurden, an einem solchen Checkpoint von Azeris gekidnappt wurde. Drei unserer Bürger wurden damals verschleppt. Und auch davor schon wurde ein Armenier entführt, der für eine medizinische Behandlung nach Armenien gefahren wurde.
Stundenlang Schlangestehen für zwei Brote
Haben Sie sich mittlerweile an diesen Belagerungszustand gewöhnt? Acht Monate sind eine lange Zeit…
Ghahramanyan: Es ist schwer, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Wenn man in ein tiefes Loch fällt, kommt man irgendwann zu dem einzig möglichen Schluß, daß man irgendwie wieder herausklettern muß, um zu überleben. Wir sind vor acht Monaten in genauso ein Loch gestürzt – und ich muß sagen, daß niemand uns ein Seil hinunterwirft oder uns die Hand reicht, damit wir da wieder herauskommen. Stattdessen führen sich alle wie Beobachter aus und erteilen gute Ratschläge. Ich sehe nicht einmal den Willen, diejenigen zu bestrafen, die uns in diese Falle gelockt haben.
Wie wirkt sich die Blockade auf die Versorgungslage bei Ihnen in Stepanakert aus? Herrscht Güterknappheit in den Supermärkten oder kann man noch etwas in den Regalen finden?
Ghahramanyan: In den Geschäften fehlt es mittlerweile schon an den basalsten Dingen. Die meisten Läden sind schon seit langer Zeit dicht. Derzeit brauchen die Menschen ihre allerletzten Vorräte auf, die sie bei sich gehortet haben. Bei manchen Familien, die beispielsweise viele Kinder haben, sind auch diese Reserven bereits weg. Ihre einzige Hoffnung ist meistens ein Stück Brot.
Aber selbst daranzukommen ist mittlerweile zu einem ernsten Problem geworden, weil die Brotfabriken wegen des Treibstoffmangels nicht mehr ordentlich arbeiten können. Der fehlende Strom führt dazu, daß Brot nur in sporadischen Mengen produziert werden kann.
Das heißt, Sie müssen Schlange stehen?
Ghahramanyan: Ja. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Um zwei Brote zu kaufen, müssen Sie sich tagsüber vor der Bäckerei anstellen. Das dauert dann meist drei Stunden. In der Nacht läuft es so ähnlich. Da müssen die Leute um zwei Uhr aus dem Bett und Schlange stehen, um sich Brot für den nächsten Tag zu sichern. Das dauert manchmal, bis die Sonne aufgeht. Ich möchte aber darauf hinweisen, da auch die internationale Gemeinschaft das nach wie vor mißzuverstehen scheint, daß es hier nicht einfach nur um einen Kampf um unseren Lebensunterhalt geht.
„Wir kämpfen nicht dafür, uns die Bäuche vollzuschlagen“
Aha, aber worum geht es dann?
Ghahramanyan: Wir kämpfen nicht dafür, uns die Bäuche vollzuschlagen, sondern darum, frei und sicher in unserer Heimat leben zu können. Aserbaidschan verletzt gerade verschiedene Menschenrechte in Arzach, wie etwa die Bewegungsfreiheit, das Recht auf Bildung, Zugang zu medizinischer Versorgung usw. usf.
Zwar hat Aserbaidschan kürzlich selbst 40 Tonnen „humanitärer Hilfe“ an die Stadt Ağdam in der Nähe von Stepanakert geleistet. Aber wir wollen diese Art von Hilfe nicht, die für uns ein trojanisches Pferd ist, weil es ein erster Schritt auf dem Weg in Richtung „Integration“ ist, wie die Azeris es nennen.
Integration in ein Land, in dem ein Menschenleben nur wenig wert ist, ganz zu schweigen von dem des armenischen Volkes… Integration in ein Land, das sich nicht einmal an die Beschlüsse des Internationalen Gerichtshofs oder an die des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs hält. Deshalb ist und bleibt die einzige Straße, über die wir Nachschub erhalten möchten, die nach Armenien, der Latschin-Korridor.
Aber der wird derzeit von aserbaidschanischen Grenzern besetzt gehalten…
Ghahramanyan: Deshalb fordern wir im Einklang mit dem Waffenstillstand, den Armenien, Rußland und Aserbaidschan im November 2020 nach dem Berg-Karabach-Krieg vereinbart haben, daß sich Menschen und Fahrzeuge endlich wieder ungehindert in beide Richtungen durch den Latschin-Korridor bewegen können. Die Waffenstillstandsvereinbarung sieht ihrem Kern nach keine Präsenz von Azeris auf der Bergroute vor.
Und man muß bei dieser Gelegenheit einfach noch einmal betonen: Es ist doch paradox, wenn Aserbaidschan einerseits leugnet, daß wir in Arzach unter einer humanitären Katastrophe leiden und hier die Leute verhungern und uns andererseits mit Lebensmitteln versorgen will. Faktisch erkennt Baku damit die Lage doch an, so wie sie in Wirklichkeit ist.
„Berg-Karabach ist unsere Heimat, wir bleiben hier“
Während des Krieges 2020 sind aserbaidschanische Truppen nahe an die armenischen Siedlungen in der Region herangerückt oder haben sie sogar komplett eingenommen. Wie nahe ist die nächste aserbaidschanische Fahne derzeit an Stepanakert?
Ghahramanyan: Stepanakert ist wie viele andere Städte in Arzach derzeit fast vollständig von aserbaidschanischen Militärposten umzingelt. Von dort aus werden die Dörfer und Städte hier regelmäßig unter Beschuß genommen. Die Armeestellungen, die derzeit am nächsten an uns in Stepanakert dran sind, liegen vor allem in der Nähe der Stadt Schuschi, nur wenige Kilometer entfernt, die während des Berg-Karabach-Krieges von den Azeris erobert wurde. Die verbleibenden armenischen Truppen sind derzeit natürlich die einzige Garantie für unsere Sicherheit.
Zwar wurde in der Waffenstillstandsvereinbarung auch festgeschrieben, daß der etwa fünf Kilometer lange Latschin-Korridor, der auch nicht weit von Stepanakert entfernt ist und an Schuschi herumführt, ausschließlich von den russischen Friedenssoldaten kontrolliert werden soll. Allerdings ist es irgendwann ziemlich offensichtlich geworden, daß diese entweder kein Interesse oder einfach nicht den Willen haben, den Korridor freizuhalten. Spätestens, als Aserbaidschan dazu übergegangen ist, als Klimakleber getarnte Geheimdienstmitarbeiter darauf anzusetzen, die Straße zu versperren, wurde das auch dem Letzten hier klar. Seitdem steht ein illegaler Checkpoint mitten auf einer Brücke des Latschin-Korridors.
Welche Lösung des Konflikts erhoffen sich die Menschen in Stepanakert zurzeit?
Ghahramanyan: Für die Lösung dieses Konflikts braucht es natürlich vor allem eine diplomatische Einigung. Leider beschränkt sich die internationale Gemeinschaft derzeit darauf, Resolutionen zu verabschieden.
Gesetzt den Fall, der Latschin-Korridor wird morgen freigegeben – aber nur eine Richtung, sodaß sie nicht wieder nach Berg-Karabach zurückkehren können. Würden Sie gehen?
Ghahramanyan: Wenn die Straße geöffnet wird, werden wir, so Gott will, einfach in unserer Heimat weiterleben wie immer. Dieses Land ist tief mit uns verbunden, weil schon unsere Vorfahren tapfer um es gerungen haben.
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David Ghahramanyan ist ein in Stepanakert lebender Fotograf, der die humanitäre Krise in der Republik Arzach schon seit Monaten dokumentiert. In den sozialen Medien hat er bereits einige tausend Follower.
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