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Nationalstaat: „Nicht alle sind das deutsche Volk“

Nationalstaat: „Nicht alle sind das deutsche Volk“

Nationalstaat: „Nicht alle sind das deutsche Volk“

Die Kunstinstallation von Hans Haacke "Der Bevölkerung"
Die Kunstinstallation von Hans Haacke "Der Bevölkerung"
Sinnbild des Kulturkampfes: Die Installation „Der Bevölkerung“ des Künstlers Hans Haacke im Innenhof des Reichstags, Foto: Picture Alliance
Nationalstaat
 

„Nicht alle sind das deutsche Volk“

Deutschland ringt in einem unerklärten Kulturkampf um seine nationale Identität, so die These des Berliner Politologen Martin Wagener in seinem neuen Buch. Dabei befürworten die meisten Parteien eine multikulturelle Willensnation. Doch beinhaltet dieses angestrebte Ideal ein hohes Konfliktpotential, wie er im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT erläutert.
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Herr Professor Wagener, wir befinden uns in einem „Kulturkampf um das Volk“, so die These Ihres Buches. Inwiefern?

Martin Wagener: Noch zur Zeit der Wiedervereinigung war klar, was mit „Volk“ gemeint ist: Der Begriff bezog sich auf die Angehörigen der deutschen Kulturnation. Heute dagegen wird in Politik und Medien versucht, ihn inhaltlich neu zu fassen. 

Von wem?  

Wagener: Etwa von Kanzlerin Angela Merkel, die 2017 im Wahlkampf sagte: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt.“ Das ist natürlich Unsinn, da Ausländer kategorial nicht dazugehören können. Im Kulturkampf wird also um die Deutungshoheit dessen gerungen, was ein Volk ausmacht. Die dominierenden Kräfte in Politik und Medien sind sich einig: Ein spezifisches deutsches Volk existiert jenseits der Staatsbürgerschaft nicht mehr. Dem widerspreche ich: Es gibt im kulturellen Sinne ein deutsches Volk als Teilmenge des deutschen Staatsvolkes.

Offiziell ist stets von „Modernisierung“ oder einer „vielfältigeren Gesellschaft“ die Rede. Tatsächlich aber steckt also viel mehr hinter diesen Begriffen? 

Wagener: Regierung und Leitmedien wollen das erstrebte Gesellschaftsmodell rhetorisch vorwegnehmen, in der Hoffnung, daß es irgendwann keine Nachfragen mehr gibt. Übrigens, wenn die Bundesrepublik kulturell immer heterogener wird, ist das ein Rückschritt. Der innere Friede in Deutschland ist über Jahrhunderte ja gerade durch Prozesse des Ausgleichs geschaffen worden, zwischen den Religionen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gruppen. Es hat sehr lange gedauert, bis jene Normen mehrheitsfähig wurden, die das Grundgesetz widerspiegelt. Durch die Zuwanderung aus islamischen und anderen kulturfremden Räumen wird dieser Konsens in Frage gestellt. Je „bunter“ wir werden, desto mehr interethnische und interreligiöse Konflikte wird es langfristig geben. 

„Der Begriff ‘deutsches Volk’ wird mit ‘rechts’ assoziiert“

Martin Wagener
Martin Wagener: Kulturkampf um das Volk. Jetzt im JF-Buchdienst bestellen

Wer sind die Akteure in dieser Auseinandersetzung?

Wagener: Es gibt in der Gesellschaft einen fundamentalen Dissens darüber, wer wir sind und was dies langfristig für Deutschland bedeutet. Union, FDP, SPD, Grüne, Linke und die Leitmedien befürworten in unterschiedlicher Ausprägung die multikulturelle Willensnation. Dem widerspricht im Bundestag allein die AfD. Hinzu kommen einige Dissidenten aus anderen Parteien, die sich früher für die deutsche Leitkultur stark gemacht haben.

Mit welcher Strategie wird der Kulturkampf geführt?

Wagener: Den politischen Kräften der Linken ist über die Jahrzehnte ein großes Kunststück gelungen. Durch permanente Wiederholungen wurden Frames etabliert, durch die Begriffe wie „deutsches Volk“, „deutsche Nation“ oder „Vaterland“ bei vielen automatisch mit „rechts“ assoziiert werden. Parallel dazu wird in Politik und Medien „rechts“, das eigentlich „konservativ“ ausdrückt, fast durchgehend als Synonym von „rechtsextrem“, sprich verfassungsfeindlich, eingesetzt. So ist ein mächtiges Schwert entstanden. Wer vor dem Hintergrund seiner eigenen Identität glaubt, daß nicht jeder Mensch in der Bundesrepublik zum kulturell verstandenen deutschen Volk gehört, wird als potentieller Rechtsextremist gebrandmarkt. Diese Strategie ist erfolgreich: 1996 gaben 16 Prozent der Befragten in einer Umfrage an, Vaterland und Patriotismus seien heikle Gesprächsthemen. 2019 waren es schon 41 Prozent. 

Vor allem kritisiert Ihr Buch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Warum?

Wagener: Dessen Präsident, Thomas Haldenwang, läßt sich für den „Kampf gegen Rechts“ instrumentalisieren. „Rechts“ und „rechtsextrem“ verwendet er oft synonym. Die Begriffe „Überfremdung“ und „Islamisierung“ gelten als verdächtig, und „Europa-Skepsis“ sei ein typisches Thema von Rechtsextremisten. Hier greift jemand, auch auf der Basis eines kruden Volksbegriffs, zugunsten der multikulturellen Willensnation in den Diskurs ein. Haldenwang überschreitet damit sein Mandat. Im jüngsten Verfassungsschutzbericht vom Juni 2021 ist zudem von einer „behauptete[n] ‘Islamisierung’“ und einer „behauptete[n] unkontrollierte[n] Massenzuwanderung“ die Rede. Parallel dazu hat allein der Anteil der Muslime in Deutschland von 4,4 bis 4,7 Millionen Ende 2015 auf 5,3 bis 5,6 Millionen in 2019 zugenommen. Der Blick auf die Realität scheint verstellt zu sein – als ob die Nachfolger von Christo und Jeanne-Claude den Amtssitz der Behörde in Köln verhüllt hätten.

„Regierung betrachtet deutsche Volk nicht als erhaltenswert“

Der Verfassungsschutz macht also Politik und unterminiert obendrein das Grundgesetz? 

Wagener: Der Verfassungsschutz kümmert sich zuvörderst und auch sehr kompetent um den Schutz des Grundgesetzes. Im „Kampf gegen Rechts“ versucht Haldenwang aber viel zu offensiv, der Politik zu gefallen. Dabei sind vor Gericht mehrfach Verfassungsverstöße festgestellt worden. Weil sich die Behörde nicht an eine Stillhaltezusage gehalten hatte, sprach das Verwaltungsgericht Köln im März gar von einer zerstörten „Vertrauensgrundlage“. Danach hätte es eigentlich einen Rücktritt geben müssen.

Unser Grundgesetz definiert die Bundesrepublik per Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk. Ist also ein Kampf gegen das Volk nicht verfassungswidrig? 

Wagener: Zu unterscheiden ist zwischen Volk und Staatsvolk. Die Bundesregierung betrachtet das kulturell verstandene deutsche Volk nicht mehr als Akteur oder gar als erhaltenswert. Sie denkt ausschließlich aus der Perspektive der Staatsbürgerschaft. Verfassungsrechtler wie Rupert Scholz halten es mit Blick auf das Grundgesetz aber auch für bedenklich, wenn die Identität des Staatsvolkes durch immer mehr Einwanderung verändert wird. Dem schließe ich mich in meiner „Theorie des Ursouveräns“, die ich im Buch formuliert habe, an. 

Was meinen Sie damit?

Wagener: Das deutsche Volk hat sich 1871 mit dem Deutschen Reich einen eigenen Staat gegeben. 1949 wurde ein Teilgebiet dieses Akteurs in Form der Bundesrepublik Deutschland neu organisiert. Der Träger des Staatsvolkes war aber immer noch das kulturell verstandene deutsche Volk, und es war immer die Aufgabe des Staates, diese Gruppe, die ich den Ursouverän nenne, identitär zu schützen. Die Begründung ist einfach: Das deutsche Volk hat es vorrechtlich gegeben, den Staat nicht. Die Regierungen von Gerhard Schröder und Angela Merkel haben durch den Umbau der Bevölkerungszusammensetzung die Relevanz des Ursouveräns zurückgedrängt. Ich bezweifele sehr, daß dies in teleologischer Sicht verfassungsrechtlich zulässig war und ist.

„Nationalstolz und Sympathien für Bismarck scheinen verdächtig“

Kann man dagegen dann nicht rechtlich vorgehen? 

Wagener: Das können Verfassungsrechtler besser beantworten. Unter den Bedingungen des Parteienstaates wird es aber sicherlich nicht einfach werden. Zumal auch Staatsvertreter regelmäßig aus einer postfaktischen Weltsicht argumentieren. So haben zum Beispiel die Verfassungsschützer aus Niedersachsen 2016 eine Studie veröffentlicht, in der Nationalstolz und Sympathie für Otto von Bismarck als verdächtig eingeordnet werden. In identitärer Hinsicht wird zudem oft mit zweierlei Maß gemessen. Wie würde der Verfassungsschutz zum Beispiel den folgenden Satz einschätzen: „Dem ethnisch definierten deutschen Volk steht ein angestammter Lebensraum zur Verfügung.“ Natürlich als rechtsextrem. Dagegen hat die Bundesregierung öffentlich erklärt, in indigenen Völkern „ethnisch definierte Bevölkerungsgruppe[n]“ zu sehen, die über einen „angestammten Lebensraum“ verfügen.

„Bevölkerungsaustausch“ gilt als rechtsextreme Verschwörungstheorie. Aber ist er dann nicht Realität?

Wagener: Der Begriff ist insofern unsinnig, als ja nicht ein Volk außer Landes gebracht wird, damit ein anderes seinen Platz einnehmen kann. Wir erleben aber natürlich eine Veränderung in der Zusammensetzung der Bevölkerung. Diese wird nicht von einer beauftragten Behörde vorgenommen. Die Bundesregierung hat ganz einfach die Gesellschaftsweichen so gestellt, daß der Anteil der Autochthonen immer weiter zurückgeht. Zu Beginn der Ära Angela Merkels hatten 18,6 Prozent der Menschen in Deutschland im weiten Sinne einen Migrationshintergrund, 2019 waren es schon 25,6 Prozent. Ich nenne Ihnen die Zahlen deutscher Großstädte: München 45,7 Prozent, Offenbach 63,9 Prozent, beide im Jahr 2020, und Frankfurt/Main 54,1 Prozent im Jahr 2019 (dort Kinder im Alter bis fünf Jahre: 71,8 Prozent). Das sind Fakten, keine Verschwörungstheorie. Der Verfassungsschutz schießt hier also nur mit Platzpatronen. Diese knallen aber gewaltig und verschrecken viele Menschen.

Wie hat dieser Kulturkampf eigentlich begonnen? 

Wagener: Die Zeit des Nationalsozialismus, insbesondere das Verbrechen des Holocaust, hat bei unserer Nation ein Trauma ausgelöst. Auf dieser Basis ist ein vor allem negativ aufgeladenes Narrativ zur Rolle des deutschen Volkes entstanden. Aktivisten der Generation der Achtundsechziger und Philosophen wie Jürgen Habermas haben den Ansatz intellektualisiert. Das bürgerliche Lager war schlicht zu schwach, oft sogar zu feige, um gegenzuhalten. Spätestens seit der Flüchtlings- und Migrationskrise 2015 gibt es mehr Widerspruch – von der AfD bis zu empörten Bürgern auf den Straßen und in den Internetforen. Dies hat die politisch-mediale Elite verunsichert, weshalb sie den Kulturkampf um das Volk verschärft hat. Dazu wird auch der Verfassungsschutz eingesetzt.

„Tag der Deutschen Einheit ist nicht der Tag der Ausländer“

Wo stehen wir in dieser Auseinandersetzung? 

Wagener: Der Mainstream ist klar in der Offensive, das bürgerliche Lager trottet – besser: trottelt – hinterher. In einer Wohlstandsgesellschaft wie Deutschland spielen Fragen der nationalen Identität eine untergeordnete Rolle. Das macht es den Befürwortern der multikulturellen Willensnation leicht. Vorfeldaktivisten und radikale Politiker, die in aggressiver und oft verfassungsfeindlicher Weise zum Thema sprechen, stützen dabei letztlich nur das Narrativ des Mainstreams. 

Wie endet das alles?

Wagener: Ich vermute, daß der Kulturkampf um das Volk noch an Fahrt gewinnen wird. Dies könnte vor allem dann der Fall sein, wenn der Bevölkerungsanteil der Migranten in Deutschland weiter ansteigt und parallel dazu ein ökonomischer Abschwung zu verzeichnen ist. Aus der Sicht der deutschen Elite stellt sich die Frage allerdings gar nicht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte auf der Einheitsfeier in Potsdam am 3. Oktober 2020: „Wir alle sind das Volk.“ Wie Merkel deutet er die Wiedervereinigung und den Satz „Wir sind ein Volk“ um. Im Gegensatz zur Faktenlage: 1990 wurde eine gespaltene Kulturnation wieder zusammengeführt. Der Tag der Deutschen Einheit ist nicht der Tag der Ausländer. Ihnen kann bei anderer Gelegenheit Respekt gezollt werden. 

Wieso gibt es keinerlei öffentliche Debatte über einen so fundamentalen Vorgang?  

Wagener: Die gibt es durchaus, dabei wird Zuwanderung aber viel zu einseitig als Chance begriffen. Die Gefahren, etwa für den inneren Frieden, werden unterschätzt. Wesentlich offener sollte über die Frage, wer wir sind, diskutiert werden. 

„Stellt jemand den Status quo in Frage, herrscht Entsetzen“

Ihr neues Buch ist bereits angegriffen worden, Ihnen selbst wird nun Extremismus unterstellt.

Wagener: Ein Kollege des eigenen Fachbereichs hat meine Ausführungen zur Identitären Bewegung Deutschland öffentlich als apologetisch eingeordnet. Dabei habe ich lediglich auf Widersprüche in der Argumentation des Verfassungsschutzes hingewiesen – etwa auf dessen Weigerung, widersprechende Empirie zur Kenntnis zu nehmen. Wenn die Identitären und ihr österreichischer Vordenker Martin Sellner immer wieder erklären, kein ethnisch homogenes Volk anzustreben, kann die Behörde das nicht einfach vom Tisch wischen. Sie tut es aber.

Sind die Angriffe auf Sie Teil des Kulturkampfes? 

Wagener: Aber natürlich. Viele deutsche Rechtsextremismus-Forscher stehen politisch sehr weit links. Begriffe wie „Volk“, „Nation“ und „Vaterland“ werden von ihnen in der Tendenz als problematisch erachtet. Wenn jemand ein Plädoyer für den Erhalt der deutschen Kulturnation hält, ist er per se verdächtig. Es geht dann nur noch darum, irgendwie „Belege“ zu finden, um ihn und seine Position zu brandmarken. Angesichts mangelnder argumentativer Gegenwehr glauben zudem einige Kollegen, die schnelle Etikettierung „rechtsextrem“ nicht mehr substantiell rechtfertigen zu müssen. Stellt jemand den Status quo in Frage, herrscht pures Entsetzen. Hätte ich „Kulturkampf um das Volk“ vor meiner Lebenszeitverbeamtung geschrieben, wäre ich heute arbeitslos.  

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Prof. Dr. Martin Wagener lehrt Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Internationale und Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin. Nach „Deutschlands unsichere Grenze. Plädoyer für einen neuen Schutzwall“ (2018) ist nun sein neues Buch „Kulturkampf um das Volk. Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen“ erschienen. Seit Juli 2021 betreibt er auf Youtube einen eigenen Podcast. Geboren wurde der Politologe 1970 in Lüneburg.

JF 40/21

Sinnbild des Kulturkampfes: Die Installation „Der Bevölkerung“ des Künstlers Hans Haacke im Innenhof des Reichstags, Foto: Picture Alliance
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