Ein „Appell für freie Debattenräume“ findet im Internet immer mehr prominente Unterzeichner. Darunter Cora Stephan, die dem Frankfurter Sponti-Milieu entstammt. Heute warnt die preisgekrönte Schriftstellerin vor dem Ende der Meinungsfreiheit durch die Linke.
Frau Dr. Stephan, warum haben Sie den „Appell für freie Debattenräume“ mitunterzeichnet?
Cora Stephan: Der war hoch an der Zeit, denn die sogenannte „Cancel Culture“ und das „Deplatforming“, also das Sperren und Löschen unliebsamer Stimmen im Internet, nehmen immer groteskere Formen an. Eine Vorsitzende der SPD bekennt sich zur militanten Antifa – kaum einer in der SPD scheint noch zu wissen, daß sie in der Weimarer Republik von der KPD als „sozialfaschistisch“ bekämpft wurde.
Die AfD aber, immerhin eine im Bundestag vertretene Partei und dort die einzige Störerin der Konsensdemokratie, findet kaum noch Versammlungsräume, weil Gaststätten und Hoteliers die Antifa fürchten – zu der sich die SPD-Vorsitzende zählt. Und der Chef der hessischen Filmförderung wird geschaßt, weil er sich mit einem AfD-Politiker hat blicken lassen.
„Kontaktschuld“! Eine durch gar nichts legitimierte Gruppe empörter Bürger darf dafür sorgen, daß die ordnungsgemäße Wahl des klugen und kultivierten Jörg Bernig im Mai zum Kulturamtsleiter von Radebeul, eines Mannes, der dem Amt gut getan hätte, mißachtet wird. Und die Kanzlerin erklärt frei heraus, daß Wahlen rückgängig gemacht werden müssen, wenn ihr das Ergebnis nicht paßt – obwohl sie sich in die Länderhoheit nicht einzumischen hat.
In Thüringen führte das zur Wiedereinsetzung der bereits abgewählten Regierung unter der Ägide der Linken. Wer es noch immer nicht weiß: die ist – nicht nur – rechtsidentisch mit der Mauerschützenpartei, der alten SED. Die aber wird heutzutage koalitionsfähig gemacht – unfaßbar!
„Viele Schriftsteller sind Herzenslinke“
Warum kommt der Appell jetzt?
Stephan: Etwas ähnliches gab es im Juli auch im englischsprachigen Raum: „A Letter on Justice and Open Debate“. Und in Deutschland ist es nicht der erste derartige Aufruf: Ich erinnere an den Protest „Charta 2017“ der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen zur Buchmesse im gleichen Jahr, als der Börsenverein glaubte, zum „Kampf gegen Rechts“ auch gegen seine Aussteller auffordern zu müssen.
Der jetzige Appell hat sicher eine größere Breitenwirkung und kann nicht so einfach denunziert werden, er hat den Vorzug, daß er von der Schweiz ausgeht und daß sein Initiator, der Journalist Milosz Matuschek, jemand ist, der keine Berührungsängste hat, wohl weil er in die alten Grabenkämpfe nicht verwickelt ist.
Die ganz großen Namen, etwa die der meisten Ihrer Schriftstellerkollegen, sucht man auf der Unterzeichnerliste allerdings vergebens. Warum?
Stephan: Viele Schriftsteller sind Herzenslinke. Überdies sind Autoren abhängig vom Wohlwollen ihrer Verlage, der Medien und Buchhändler. Das macht vorsichtig. Der Umgang des PEN mit seinem Mitglied Jörg Bernig allerdings war skandalös. Dort verteidigt man heute offenbar nur Menschen, die auf Linie sind.
„Die ‘falsche’ Meinung kann Karrieren ruinieren“
Seit wann ist die Meinungsfreiheit aus Ihrer Sicht schon so eingeschränkt – wann und wie wurde Ihnen das bewußt?
Stephan: Die „falsche“ Meinung konnte stets Karrieren ruinieren, egal, ob sie der Realität entsprach. Doch es ist schon verblüffend, wie frivol heute in vielen Medien „Haltung“ zelebriert wird und Fakten für nebensächlich gehalten werden. Und obzwar so gut wie alle, Männer und Frauen, dagegen sind, wird dort sprachverhunzend gegendert, als ob das die Welt schöner und gerechter machen könnte. Noch verblüffender, daß alles, was sich links nennt, geradezu obrigkeitsgläubig auftritt.
Ich sehne mich richtig nach intelligenten Linken wie Bernd Stegemann, Sahra Wagenknecht oder Wolfgang Streeck, die noch ein Verhältnis zur Realität haben – mehr davon! Denn während sich die Salonlinke mit Identitätsfragen beschäftigt, hat die arbeitende, steuerzahlende Bevölkerung kaum noch eine Lobby. Die SPD jedenfalls hat sich von ihrer Klientel gründlich verabschiedet – ein Trauerspiel!
Warum fällt all das der sogenannten politischen Mitte der Gesellschaft offenbar kaum auf?
Stephan: Auch das ist ein Trauerspiel. Wir wissen aus Umfragen, daß sich viele Bürger nicht mehr trauen, offen zu sagen, was sie denken, weil sie Konsequenzen fürchten – beruflicher, also existentieller Art. Ich denke schon, daß die Verengung des Meinungskorridors vielen auffällt, aber daß sie sich nicht aus der Deckung wagen.
Das ist die nächste Tragödie. Solche Einschüchterungspraxis als „Kampf gegen rechts“ zu adeln, ist nicht nur vermessen, sondern geradezu perfide: „Das ist Rechts!“ ist ein Totschlagargument und war stets ein bewährtes Kampfmittel der SED.
„Alles, was denen einfällt, ist ‘Nazi, Nazi!‘ zu schreien“
Sie waren früher Teil der linksradikalen Szene. Haben Sie sich also nicht an all dem, an der Einschränkung der Meinungsfreiheit, selbst einmal beteiligt?
Stephan: Nein. Es war die Alternativszene. Früher war mehr Lametta! Für all die, die damals nicht dabei waren: in den siebziger und achtziger Jahren war das linke Milieu weit bunter und, tja, diverser.
Neben den dogmatischen Sekten der Stalinisten, Maoisten, Trotzkisten und DDR-Treuen sowie der Schießguerilla gab es besonders in Frankfurt am Main eine undogmatische Szene, die Perlen wie Karl Napps „Chaos Theater“, die Sponti-Zeitschrift Pflasterstrand, das „Frankfurter Kurorchester“, das „Sogenannte linksradikale Blasorchester“, die „Batschkapp“ oder den „Tigerpalast“ hervorgebracht hat. Das war mein Antidepressivum, als ich nach einsamen Jahren der Arbeit an der Doktorarbeit und der Promotion 1976 keinen Job bekam.
Übrigens: Querflöte, Posaune und Tuba sind ja nun nicht gerade linksradikal. Das Blasorchester wurde „so genannt“ – ähnlich, wie heute vieles, was nicht der veröffentlichten Meinung entspricht, als „rechtsradikal“ tituliert wird. Wie sich das doch gleicht, die Sache mit der Schubladisierung.
Wir beim Pflasterstrand haben uns als undogmatisch empfunden und den realpolitischen Kurs der Grünen argumentativ unterstützt – was uns die Fundamentaloppositionelle Jutta Ditfurth noch heute übelnimmt. Man soll ja nicht allzu liebevoll auf die Vergangenheit blicken, aber wenn ich mir anschaue, wie Demonstranten bei allem, was ihnen nicht gefällt, nur noch „Nazi! Nazi!“ schreien können, kommt mir die damalige Szene ein wenig – nun – einfallsreicher vor.
Früher Linke, heute Konservative – wie kam das bei Ihnen?
Stephan: Verblüffend und ziemlich phantasielos, daß es nur noch zwei Schubladen gibt, in die man hineinpassen soll. Ich halte es seit Jahrzehnten mit Paul Verlaine: „Ich bin nicht immer meiner Meinung.“ Übersetzt: Ich ändere sie, wenn starke Evidenz ihr widerspricht. Das könnte man auch Vernunft nennen.
Im übrigen: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche!“ Deshalb kann man sich auf Menschen wie Jörg Baberowski, einst beim KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschland, oder Rüdiger Safranski, einst KPD, verlassen: Sie wissen, warum sie – nicht nur – linke Ideologien ablehnen: Weil sie sich gründlich damit auseinandergesetzt haben.
Ich war zwar in keiner solchen „Kirche“, aus der ich hätte austreten müssen. Aber die gründliche Auseinandersetzung habe ich mir ebenfalls gestattet. Ob ich heute konservativ bin, weiß ich nicht, ich habe mich stets als liberal empfunden. Aber wer sich viel mit Geschichte befaßt, wird wohl konservativ: Es gibt viel zu bewahren, Rechtsstaatlichkeit an erster Stelle, Demokratie und Meinungsfreiheit gehen damit einher.
„Auch Maos Rote Garden begannen mit Denkmalsturz“
Wie beurteilen Sie die konservative Gegenbewegung zum grün-rot-schwarzen Zeitgeist, die sich in den letzten Jahren verstärkt gebildet hat?
Stephan: Ich bin froh über jede vernünftige Gegenbewegung zum herrschenden Obskurantismus mit den schrillen Tönen und den ständigen Verdächtigungen und Angriffen ad hominem. An den Konservativen, die ich kenne, schätze ich die guten Manieren und ein gestandenes Geschichtsbewußtsein. Bei manchen Medienmenschen und jüngst auch beim Bundespräsidenten hat man hingegen den Eindruck, sie hätten ihr Geschichtsbild aus den Lehrbüchern der DDR bezogen. Es soll ja sehr schwierig sein, mit „Rechten“ zu reden, aber ich finde es seit langem ausgesprochen schwierig, mit Linken zu reden – zumal wenn sie kritiklose Merkelianer sind.
Der Appell ist offenbar eine Reaktion auf das, was seit neuestem „Cancel Culture“ genannt wird. Was steckt hinter dieser?
Stephan: Ein Machtkampf, anders kann ich es mir nicht erklären. Mich erinnert dieser Säuberungsfuror mehr und mehr an Maos Rote Garden. Da ging es auch mit Denkmalsturz und Vernichtung bürgerlicher Traditionen los. Damit beginnt jede Revolution: Zerstören überkommener Bindungen. Wenn das historische Gedächtnis gelöscht werden soll, wird alles gegenwärtig, wurzellos, verbindungslos. Der Generationenzusammenhang: ausgelöscht. Die uralte Solidargemeinschaft zwischen Mann und Frau: zerbröselt unter schrillen feministischen Attacken. Der Mensch wird zum bindungslosen Einzelwesen, der nur noch einen Anker kennt: den Staat.
Also läuft das Ganze tatsächlich auf Totalitarismus hinaus?
Stephan: Ja, das hat totalitäre Züge. Das gilt übrigens auch für den Umgang mit Covid-19. Man hat das Gefühl, daß nach der Devise des alten Zynikers Winston Churchill verfahren wird: Laß keine Krise ungenutzt verstreichen! Die Maßnahmen sind zum Teil so grotesk, daß man dahinter den Versuch vermuten möchte, es soll ausprobiert werden, was man den braven Bürgern so alles zumuten kann, wenn ihre Angst nur groß genug ist.
Jeden Tag Meldung auf allen Kanälen, „die Zahlen“ stiegen wieder – ohne daß spezifiziert wird, was gemeint ist: die Zahl der positiv Getesteten? Der Infizierten? Der Infektiösen? Der Erkrankten? Die Zahl der auf den bislang ziemlich leeren Intensivstationen Behandelten? Oder die Zahl der über die zu erwartenden Todesfälle hinaus Gestorbenen? Bei den Grünen sagt man mit wünschenswerter Klarheit, wozu das alles gut ist.
„Ich war noch nie so ratlos und erschüttert“
Anton Hofreiter meinte jüngst in der Haushaltsdebatte des Bundestags, die Handlungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft, mit der die Politik der Pandemie begegnet sei, müsse nun genutzt werden, um die Klimakrise zu bewältigen.
Noch deutlicher Altmeister Joschka Fischer: „Aber die Covid-19-Krise weist auch weit darüber hinaus und verfügt über eine viel grundsätzlichere Dimension. Rückblickend wird diese Krise im Jahr 2020 vielleicht einmal als der Beginn der ‘großen Transformation’ der globalen Industriegesellschaft hin zu einer Gesellschaft der Nachhaltigkeit und Verantwortungsübernahme der Menschen für ihr Tun bezeichnet werden, soweit sie sich in Industriegesellschaften organisieren. Wenn es gut geht, erweist sich das Virus als ein Weckruf zur rechten Zeit.“ Mit anderen Worten: Wir sind gewarnt!
Als Lehre aus 1933 gilt der Schwur der politischen Mitte, so etwas nicht noch einmal durch Passivität oder Mitläufertum zuzulassen. Wie ist es möglich, daß offenbar gar nichts begriffen wurde?
Stephan: Ich hoffe sehr, daß Sie übertreiben. Aber ich gestehe, daß ich noch nie so ratlos und so erschüttert war. Das Parlament hat seiner Entmachtung nicht widerstanden, der freie Meinungsaustausch wird erdrosselt, jeder Widerspruch denunziert – „Konsens“, wohin man schaut. Ich halte nichts vom Beschwören der „Lehren aus der Vergangenheit“. Aber eines sollte allen klar sein: Jede Freiheitsbeschränkung kann auch diejenigen treffen, die sie heute lauthals fordern. Die Revolution hat chon immer ihre Kinder gefressen.
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Dr. Cora Stephan: Die Schriftstellerin verfaßte zahlreiche Romane und Sachbücher, darunter „Der Betroffenheitskult“ (1994) und „Angela Merkel. Ein Irrtum“ (2011). Zudem schrieb sie Hörspiele, Kolumnen, Kritiken und Essays – etwa für Rundfunkanstalten, die Zeit, den Spiegel, die Welt. Geboren 1951 in Strang bei Bad Rothenfelde, wuchs sie im nahen Osnabrück auf, wurde über die Geschichte der Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert promoviert.
Sie lehrte an der Universität Frankfurt, war Lektorin und Übersetzerin, etwa für Suhrkamp, und nach einem Intermezzo beim Hessischen Rundfunk von 1985 bis 1987 Spiegel-Korrespondentin in Bonn. Seither verfaßte sie über zwei Dutzend Bücher, etliche ihrer meist gelobten, teils preisgekrönten Titel publizierte sie als Anne Chaplet und Sophie Winter. Im Mai erschien ihr Roman „Margos Töchter“, Fortsetzung von „Ab heute heiße ich Margo“ (2016), über den der NDR urteilt: „so toll gemacht“, daß man „wie bei der vielzitierten Chipstüte“ nicht mehr aufhören könne, zu lesen.