Herr Professor Patzelt, der Bundesvorstand der AfD hat mit knapper Mehrheit die Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz annulliert: Ist damit endgültig das Ende der Koexistenz von bürgerlich-konservativer Parlaments- und „sozialpatriotischer“ Bewegungspartei eingeläutet?
Werner J. Patzelt: Vielleicht nicht das Ende der Koexistenz von Parlaments- und Bewegungspartei, womöglich aber das Ende des Versuchs, in derselben Partei auch mit Rechtsradikalen zu koexistieren. Seit deren Hochkommen und ihr wachsender Einfluß die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz plausibilisiert, ist es ganz unverkennbar, daß jener Schaden, den Kalbitz und Co. für die AfD anrichten, ihren Nutzen für die Partei übersteigt.
Zur Erläuterung seines Vorgehens verschickte der Vorsitzende Jörg Meuthen ein Mitgliederrundschreiben an alle Parteifreunde. Co-Parteichef Tino Chrupalla erwiderte mit einem Gegen-Brief, in dem er das Minderheiten-Votum im Bundesvorstand erläuterte. Ist das ein professionelles Vorgehen, wie man es von der größten Oppositionskraft im Bundestag erwarten sollte?
Patzelt: Professionell wäre es, innerparteiliche Konflikte im Vorfeld ihrer öffentlichen Wahrnehmung zu schlichten. Das ist beim AfD-Konflikt zwischen Lucke, Petry und jetzt Meuthen mit ihren Gegnern stets mißlungen, weil es um Grundsätzliches, nicht nur Stilistisches ging. Jetzt muß der Richtungsstreit erneut ausgetragen und wieder einmal entschieden werden.
Meuthen muß seine Behauptung glaubhaft machen, nicht persönliche Rechnungen, sondern die besten Interessen seiner Partei im Sinn zu haben. Dafür braucht es Erklärungen vor den Parteimitgliedern. Gerade so halten es nun auch Meuthens Gegner. Beides dient jener Transparenz politischer Entscheidungsfindung, die wir – zu Recht – immer wieder einfordern. Daß es besser gewesen wäre, es mit einer einst als vernünftig-liberalkonservative Partei gegründeten politischen Bewegung gar nicht erst so weit kommen zu lassen, ist ohnehin klar.
„Von Extremisten muß man sich trennen“
Könnte es sein, daß die mit dem Rauswurf von Kalbitz verdeutlichte „rote Linie“ zu spät gezogen worden ist und deshalb die verschreckten bürgerlichen Wähler (und Ex-Mitglieder) nicht mehr zurückkehren? Enttäuscht die Disziplinierung des rechten Flügels jetzt auch noch diejenigen, die gerade wegen des rustikaleren Protests gegen „den Mainstream“ die AfD gewählt haben?
Patzelt: Es geht nicht um „rustikaleren“ Protest! Franz Josef Strauß konnte – weiß Gott – sehr rustikal auftreten; dennoch stand für jeden vernünftigen Beobachter des politischen Spiels außer Zweifel, daß er voll und ganz zu unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung stand. Das ist aber bei solchen Leuten nicht klar, die unentwegt von einer „Kanzler-Diktatorin“ phantasieren und sich lustvoll den ehedem linksextremen Spruch anverwandelt haben, die Probleme „des Systems“ wären unlösbar, denn: „Das System ist das Problem“ – und deshalb „abzuwickeln“.
Solche Leute, die unsere freiheitliche demokratische Grundordnung für gar nicht bestehend halten, weshalb es ihnen auch nicht aufs Reformieren ankommt, sondern aufs Ersetzen, sind also nicht „rustikal“. Sie sind vielmehr Extremisten, von denen man sich trennen muß. Außerdem werden die womöglich von Meuthen und Co. verscheuchten Noch-AfDler den zahlenmäßigen Umfang der NPD-Anhängerschaft nicht überschreiten. Also wird man mit ihnen gut mittels der bewährten Ausgrenzungspraktiken fertigwerden.
„Unvermeidlicher Richtungsstreit“
Einige Unterstützer des nun in die Wüste Geschickten verweisen gern auf die Wahlergebnisse, die die AfD mit ihm als Spitzenkandidat in Brandenburg erzielte und vergleichen dies dann beispielsweise mit dem eher mageren Abschneiden zuletzt in Hamburg. Spricht das nicht für einen Kalbitz-Höcke-Kurs als Erfolgskonzept?
Patzelt: In Ostdeutschland mit seiner auf die neunziger Jahre zurückgehenden Empörungs- und Protestlust samt geringer Stabilität des Parteiensystems mag der Kalbitz-Höcke-Kurs vielleicht auch künftig erfolgreich sein. Zeitmodisch ist aus linkem Protest gegen das „übergestülpte BRD-System“ zwar ein rechter Protest geworden. Doch ostdeutsche Aufsässigkeit gegen „weltanschauliche Besserwessis“ könnte in den neuen Bundesländern durchaus ein wirkungsvoller Mobilisierungsfaktor für eine rein rechtspopulistische AfD bleiben.
Derlei würde die AfD allerding zu einer ostdeutschen Regionalpartei machen, die ihren Westteil weiterhin toxisch sein läßt und ihm jede Möglichkeit nimmt, jemals Regierungsverantwortung anvertraut zu bekommen. Mir scheint, daß inzwischen viele AfD-Politiker, die ganz Deutschland im Sinn haben, genau dieses Problem begriffen haben – und daß sie sich deshalb auf jenen ganz unvermeidlichen Richtungsstreit einlassen, der gewiss nicht nur Alexander Gauland persönlich schmerzt.
Man dürfe nicht „eine CDU 2.0“ werden, heißt es gern in AfD-Kreisen. Wäre das in der Tat existenzgefährdend?
Patzelt: Das hängt ganz vom Kurs ab, den die „CDU 1.0“ weiterhin einschlägt! Derzeit geht die CDU auf Bündnisse mit den Grünen aus, und sie wird das auch künftig tun. Ein Großteil der CDU-Mitglieder und CDU-Spitzenpolitiker hält das nämlich für richtig. Die meisten tonangebenden Massenmedien unterstützen auch keinen anderen CDU-Kurs als diesen. Und jeder Brückenschlag von der CDU zur AfD wird noch jahrelang für jeden politisch tödlich enden, der ihn versucht.
Obendrein kommt ein Großteil der jetzigen CDU-Unterstützer tatsächlich aus der Anhängerschaft von Grünen und SPD. Das zeigt der Blick auf den Corona-bedingten demoskopischen Aufstieg der CDU: Er geht nicht zu Lasten der AfD, sondern zu Lasten – vor allem – der Grünen. Eben der Kurs, welcher ihr dieses Wählerpotenzial einbrachte, hat aber der CDU sehr, sehr viele Mitglieder und Wähler entfremdet, die es deshalb mit Karrieren in der AfD oder zumindest mit dem Wahlkreuz bei dieser Partei versucht haben.
„Gesetz der Sozialistenspirale“
Schaffte es unter solchen Umständen die AfD, sich als Fortsetzer-Partei des früheren CDU-Kurses in Sachen Eurozonen-Stabilität und vorsichtiger Migrationspolitik aufzustellen, also wirklich als „CDU“ 2.0, dann würde ihr das gewiß nicht schaden, sondern dauerhaft nutzen. Anders wäre es nur, wenn die CDU wieder auf ihren früheren Erfolgskurs als Partei von der Mitte bis an den rechten Narrensaum einspuren wollte. Die dafür nötige Einsicht findet sich allerdings nur bei einer Minderheit der CDU.
Die aber wird sich höchstwahrscheinlich nicht durchsetzen. Also brauchte eine gemäßigt rechte „Meuthen-AfD“ nur entspannt darauf zu warten, wie immer mehr Leute mit den realen Folgen schwarz-grüner Politik unzufrieden werden. Hingegen verschaffte eine klar nationalbolschewistische Kalbitz-Höcke-AfD der CDU weitere Zeit zum Treibenlassen der Dinge, weil mit einer solchen Partei die CDU nun wirklich nicht zusammenwirken kann – und sich deshalb alternativlos mit den Grünen einlassen muß.
In Erfurt konnte die AfD die Rolle eines Mehrheitsbeschaffers zur Ablösung von Rot-Grün-Rot spielen – allerdings nur für kurze Zeit. Wäre die Empörung über die Wahl des Liberalen Kemmerich genauso groß gewesen, wenn sie mit den Stimmen einer Meuthen- statt einer Höcke-AfD zustande gekommen wäre?
Patzelt: Angesichts der großen Popularität Ramelows und der klaren Ablehnung jeglichen AfD-Einflusses auf Regierungshandeln durch sowohl die Medienmehrheit als auch die Bundesführung der CDU wäre selbst eine „Meuthen-AfD“ mit der Abwahl Ramelows nicht durchgekommen. Doch daß es ausgerechnet – und in Thüringen ja auch unvermeidlich – Höcke war, der Ramelow und manch anderen ausmanövrierte, brachte diesen ganz unerwarteten AfD-Erfolg erst recht um jede Nachhaltigkeit.
Könnte sich die AfD in Zukunft auch als eine reine „Hinweis-Partei“ etablieren, die den mit vielem Unzufriedenen eine Stimme verleiht?
Patzelt: Mit einer reinen „Hinweis-Partei“ ist niemandem gedient – schon gar nicht einer solchen Partei selbst. Es müssen sich Parteien nämlich in die Lage bringen, die von ihnen aufgegriffenen und dann öffentlich artikulierten Hinweise aus der Bevölkerung auch politisch umsetzen zu können. Deshalb droht die bisherige AfD, freilich auf ihre Weise, dem „Gesetz der Sozialistenspirale“ zu verfallen: Je reiner die Lehre, desto kleiner der Kreis ihrer Anhänger – und umso geringer der aus eigener Kraft erreichbare politische Einfluß. Nur auf Protest zu setzen, führt zunächst zu einem selbstberauschenden, rein demagogischen Parteicharakter – und dann ins politische Nirwana. Es bräuchte die AfD, sozusagen, ihren Joschka Fischer.
„Die AfD muß ihre Chance selbst nutzen“
Und wenn nicht: Wie müßte sich die AfD entwickeln, um über kurz oder mittellang auch mal Regierungsmitverantwortung übernehmen zu können?
Patzelt: Die AfD müßte – bemessen an ihrem Führungspersonal, an ihrer Programmatik und am Verhalten ihrer Anhänger in Öffentlichkeit und Internet – zu einer Partei werden, an deren Treue zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung niemand zweifelt. Ihr vordringliches Ziel wäre erreicht, wenn der AfD von einem Großteil der Medien erst die Fähigkeit zur konstruktiven Politikkritik, dann zur kompetenten Politikmitgestaltung zugeschrieben würde.
Doch um ein solches Ziel überhaupt anstreben zu können, muß sie sich erst einmal redlich und wirkungsvoll von ihren Demagogen und Radikalen trennen. Die CDU hat der AfD durch ihre – von mir so oft kritisierte – Torheit, rechts von sich eine Repräsentationslücke aufreißen und dann auch klaffen zu lassen, zwar eine große Chance beschert. Doch nutzen muß die AfD diese Chance schon selbst.
Zum Schluß noch eine Bitte um den Blick in ihre Glaskugel: Wie geht die Sache weiter? Kommt der große Knall, die Teilung der AfD? Haben Meuthen und seine Mitstreiter nur einen Pyrrhussieg errungen und müssen am Ende dem Zorn einer aufgebrachten Basis weichen? Oder ist die Aufregung in der Partei in Wahrheit gar nicht so groß, sondern nur wieder mal in einer besonders lauten Minderheit, die sich in den sozialen Netzwerken Luft verschafft?
Patzelt: Ich bin kein Wahrsager, auch wenn ich politische Entwicklungen ziemlich gut einschätzen kann. Die AfD ist allerdings immer noch ein „gäriger Haufen“, bei dem Politisches leicht persönlich, Persönliches rasch politisch wird. Also ist da wenig so verläßlich, daß man mit einiger Verläßlichkeit Kommendes prognostizieren könnte.
Mir scheint allerdings, daß die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz die wichtigste Rahmenbedingung des innerparteilichen Streits entscheidend verändert hat: Jetzt geht es nicht mehr nur um Ideologisches oder um Stilfragen, sondern um die künftige Anziehungsfähigkeit der Partei für Leistungsträger – und somit um den Bestand einer nicht bloß am Wahltag erfolgreichen AfD. Also könnte der Streit diesmal so ausgehen, daß sich einmal nicht die Radikaleren, sondern die Vernünftigeren durchsetzen.
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Prof. Dr. Werner J. Patzelt ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft an der TU Dresden.