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Interview mit Egon Flaig zum Fall Lübcke: „Terror und totalitäre Gesinnung“

Interview mit Egon Flaig zum Fall Lübcke: „Terror und totalitäre Gesinnung“

Interview mit Egon Flaig zum Fall Lübcke: „Terror und totalitäre Gesinnung“

Mordfall Lübcke
Mordfall Lübcke
Mordfall Lübcke: Der Verdächtige Stephan E. wird von Polizisten abgeführt: „Unzumutbar ist die Wahrheit, wenn Menschen unmündig werden“ Foto: picture alliance/Uli Deck/dpa
Interview mit Egon Flaig zum Fall Lübcke
 

„Terror und totalitäre Gesinnung“

Erstmals seit 1945 ist mit Walter Lübcke ein Politiker mutmaßlich einem Rechtsextremisten zum Opfer gefallen. Erstmals wird eine Bundestagspartei moralisch des Mordes bezichtigt. Der Historiker Egon Flaig sortiert im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT die Lage.
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Das Land Hessen will seine höchste Auszeichnung, die Wilhelm-Leuschner-Medaille, posthum an den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verleihen. Der CDU-Politiker hatte sich für Masseneinwanderung eingesetzt und wurde Anfang Juni mutmaßlich von einem Rechtsextremisten getötet. Bestätigen sich die Vorwürfe, wäre dies der erste Mord an einem Politiker durch einen Rechtsextremisten. Erstmals wurde jedoch auch eine Bundestagspartei moralisch des Mordes bezichtigt. Der Historiker Egon Flaig sortiert im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT die Lage.

Herr Professor Flaig, stellt der Mord an Walter Lübcke eine neue Qualität dar? 

Egon Flaig: Er ist ein Terrorakt und ein Angriff auf den Staat, der sein Personal in besonderer Weise schützen und, in solch einem Fall, in besonderer Weise ehren muß. Der Philosoph Hermann Lübbe etwa hat gefordert, daß solche Opfer ein Staatsbegräbnis erhalten. Öffentliche Ehrungen, auch gefallener Soldaten, erinnern daran, daß der Dienst am Gemeinwesen ein besonderer ist. Der Staat hat all das unabhängig von der individuellen Qualität der Person zu tun; in diesem Fall unabhängig von der umstrittenen Aussage Walter Lübckes vom 14. Oktober 2015 in Lohfelden. 

Wie ist diese zu bewerten?

Flaig: Seine Äußerung „Da muß man für Werte eintreten; und wer diese Werte nicht vertritt, kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist … Es ist die Freiheit eines jeden Deutschen“ ist eine jener schlimmen verbalen Fehlleistungen unseres politischen Personals im Herbst 2015. Wer Staatsbürgern das Angebot macht, ihren Staat zu verlassen, spielt mit dem Bürgerrecht; er spricht jenen, die „nicht einverstanden sind“, das Recht ab, Bürger unserer Republik zu sein.

Das ist ein furchtbarer Fall von politischem Extremismus. Wer nach „Haß“ in der politischen Sprache sucht, findet ihn hier in Form von kaltem Bedacht. Die Äußerung macht das Gedicht Bertolt Brechts akut, in dem der nach dem 17. Juni 1953 der DDR-Regierung riet, sie möge sich „ein anderes Volk“ wählen. „Freiheit“, so Rosa Luxemburg, „ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“. Wer denen rät, das Land zu verlassen, spricht ihnen die Freiheit ab, anders zu denken und den Dissens vorzubringen. Das heißt auch die Diskussion zu verweigern und die demokratische Öffentlichkeit beschädigen. 

„Scharia-ähnliche Äußerung eines CDU-Politikers“

Egon Flaig Foto: wikimedia.org/Jonas Rogowski/cc

Rechtfertigt das aber Todesdrohungen?

Flaig: Auf keinen Fall. Doch diese Auffassung vom Staatsbürger ist unvereinbar mit dem Grundgesetz, ja mit jedweder Demokratie. Es wäre zu prüfen gewesen, ob der Regierungspräsident damit nicht gegen seinen Amtseid verstoßen hat. Die Initiativen, ein Verfahren zur Amtsenthebung einzuleiten, mögen mit wüsten, inakzeptablen Kommentaren ergriffen worden sein. Sie sind aber verständlich, angesichts der Rechtslage und besonderen Verfassungstreue, die von hochrangigen Beamten zu verlangen ist. Unbegreiflich ist, wie die CDU seine Aussage hinnehmen konnte.

Immerhin hat man in der SPD versucht, Thilo Sarrazin auszuschließen, obschon der an keiner Stelle gegen das Grundgesetz verstoßen hat. Sagt jemand etwas Unsägliches, ist das nicht schlimm, wenn eine funktionierende Öffentlichkeit es kritisiert und mit Argumenten den Politiker nötigt, sich zu korrigieren. Geschieht das nicht, fördert dies jenes Klima, in dem Fanatiker glauben, morden zu dürfen.

Lübcke hat in einem Interview später klargestellt, wie seine Aussage zu verstehen sei.

Flaig: Sein Interview mit der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen verschlimmerte den Sachverhalt: Er habe nur jene gemeint, „die durch Zwischenrufe ihre Verachtung unseres Staates artikuliert oder diesen Schmähungen applaudiert haben“. Doch das trifft nicht zu. Lübcke sagte klar, gehen solle „wer diese Werte nicht vertritt … nicht einverstanden ist“. Also alle, die nicht mit der Migrationspolitik einverstanden sind. Noch fataler war seine Begründung „dieser Werte“: „Unser Zusammenleben beruht auf christlichen Werten. Damit eng verbunden sind die Sorge, Verantwortung und Hilfe für Menschen in Not.“ Das aber wäre ganz furchtbar!

Denn für liberale und republikanische Auffassungen beruht unser Zusammenleben nicht auf christlichen Werten, sondern auf den Regeln des Grundgesetzes. Andernfalls hätten Homosexuelle und viele andere kein Daseinsrecht. Wer sich auf Werte beruft, um Dissidenten das Recht auf eine andere Meinung zu nehmen, setzt Gesinnung an Stelle der Treue zur Verfassung und zur Rechtsordnung. Eben das ist ein totalitäres Merkmal. Daß große Teile der politischen Klasse das nicht gewahrten, zeigt einen besorgniserregenden Grad von Demokratieferne an.

Warum sollte der Appell an solche Werte als Mitglied einer C-Partei falsch sein?

Flaig: Erstens kann in der demokratischen Öffentlichkeit niemand auf christliche Werte verpflichtet werden, sondern nur auf Werte, die ein demokratisches Gemeinwesen im Falle schwerer Kontroversen verkraften kann, und das sind die Werte der Aufklärung und des Republikanismus. Ohne sie wären faire öffentliche Diskussionen nicht möglich. Mit religiösen Geboten dagegen stoppt man jeden rationalen Austausch von Argumenten. Zweitens agierten die Staaten des Abendlandes jahrhundertelang zwar auf Basis „christlicher Werte“; doch wurden die fast nie konstitutiv für das politische Handeln. Denn Staaten haben an sich einen Wert und eine Würde.

Christliche Werte dürfen den Status von regulativen Ideen behalten, ebenso wie die Menschenrechte, aber sie dürfen niemals in den Status von konstitutiven Ideen gelangen. Drittens hat sich seit der Migrationskrise die Meinung ausgebreitet, daß man „christliche Ideale“ zu Maximen machen müsse, um staatliches Handeln anzuleiten. Gemeint sind freilich die Ideale der Bergpredigt; und diese sind absolut unverträglich mit der Existenz einer Rechtsordnung und eines Staates. Wenn christliche Werte zu Maximen für staatliches Handeln werden, erleben wir eine theokratische Aufladung der Politik. Aus dem Munde eines CDU-Politikers ist das eine politische Haltung, die jener der Scharia ähnelt. 

„Die Verrohung begann schon lange vor der AfD“

Erklären Sie Lübcke damit nicht für mitschuld beziehungsweise stehen in der Nähe Erika Steinbachs und der AfD, denen vorgeworfen wird, „mitgemordet“ zu haben?

Flaig: Man wirft Frau Steinbach vor, sie habe seine Aussage wiederholt in sozialen Medien zirkulieren lassen. Was ist daran verwerflich? Wer öffentlich das Wort ergreift, muß dafür einstehen – für alle Zeit. Gesteht er einen Irrtum ein, zählt das zwar höher als der Irrtum, er muß aber damit leben, daß er sich geirrt hat. Und jeder hat das Recht, ihn darauf hinzuweisen. Es gibt kein Verfallsdatum für das öffentliche Wort. Die maßgebliche Trennlinie ist keine chronologische, sondern die zwischen wahr und falsch. Wer eine Aussage verfälscht und zirkulieren läßt, der aber tut Unrecht; er verleumdet (und tatsächlich hat ein Journalist in der Zeit vom 6. Dezember 2018 mich auf diese Weise verleumdet).

Ingeborg Bachmann sagte: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ Unzumutbar ist sie, wenn Menschen unmündig werden. Dann muß man sie vor böser Einflüsterung schützen; muß sie auch politisch gängeln. Ist Wahrheit nicht mehr zumutbar, kollabiert die Demokratie, da sie auf eine funktionierende Öffentlichkeit angewiesen ist. Wenn Ex-CDU-Generalsekretär Peter Tauber nicht unterscheidet zwischen wahr und verfälscht, bezichtigt er Menschen, die wahre Sachverhalte verbreiten. Solchen eine Mitschuld zu geben an politischen Morden ist nichts anderes als geistiger Terrorismus und totalitäre Gesinnung.

Aber ist Taubers Vorwurf nicht doch zulässig? Schließlich schützt die Meinungsfreiheit auch etliche unwahre Äußerungen.

Flaig: Seine Worte muß man als extremistische Äußerung im öffentlichen Raum hinnehmen. Freilich muß er sich gefallen lassen, dafür als Extremist bezeichnet zu werden. Man hat in ruhigem Ton, ohne Geifern und Entrüstung, die Gründe dafür vorzubringen, warum seine Aussage dem Geist der Öffentlichkeit widerspricht und wieso sich in ihr eine totalitäre Haltung äußert. 

Aber Worte können zu Taten führen. Also ist Taubers Vorwurf doch sogar berechtigt!

Flaig: Natürlich können Worte zu Taten führen. Doch wer das Wort ergreift, kann niemals darüber verfügen, wie seine Worte aufgenommen werden. Das ist ein fundamentales Manko aller menschlichen Kommunikation: Die Freiheit des Hörers und Lesers, Worte zu deuten, ist auch seine Freiheit, diese anders zu verstehen als sie gemeint sind, sie „produktiv“ mißzuverstehen. Wollten wir das vermeiden, müßten wir freies Denken verbieten. Denn anders zu denken heißt, geistigen Widerstand zu praktizieren.

Und aus dem geistigen Widerstand der einen können andere Gründe schöpfen, selbst zivilen Widerstand zu leisten. Jedes Engagement aber kann in den Terrorismus führen – und eine winzige Marge terrorbereiter Menschen ist nie auszuschließen. Nehmen wir einen konkreten Fall: Es war ein Tierschützer, der 2002 den niederländischen Politiker Pim Fortuyn ermordete. Nach der Logik Peter Taubers müßte Tierschutz nun verboten werden. 

Stimmt es, daß die AfD oder die „Rechten“ die politischen Sitten verrohen? 

Flaig: Die Verrohung begann bereits, als die Bundesrepublik aufhörte, staatliche Symbole zu schützen. Denn läßt ein Land es zu, daß seine Streitkräfte öffentlich mit der Parole „Soldaten sind Mörder“ beschimpft werden können, raubt es jenen, die bereit sind, für dieses Land höchste Opfer zu bringen, ihren Ehrenschutz. Wer das tut, beschädigt den Respekt vor dem Staat und seinen Dienern. Daß Polizisten öffentlich mit der Parole ACAB („All cops are bastards“ – Polizisten sind Bastarde) verhöhnt werden dürfen, ist ein weiterer Schritt zur systematischen Zerstörung der Autorität unseres demokratischen Staates.

Wer das nicht beachtet, gleichzeitig aber nach besonderem Schutz für bedrohte Politiker ruft, leidet unter amnestisch gerechtfertigter Schizophrenie. Und die Verrohung der Sprache setzte ein, als der Multikulturalismus das Wort „Rassismus“ systematisch gegen alle gebrauchte, die vor dem multikulturellen Projekt warnten und vorhersagten, daß die Gesellschaft sich in Parallelgesellschaften mit eigenem Recht zersplittern werde.

Also geht es um die Delegitimierung aller nichtlinken Nonkonformen?  

Flaig: Es geht um die Delegitimierung des souveränen Staates überhaupt und der demokratischen Republik im Besonderen. Und die eurokratische Politik der „Antidiskriminierung“ ist bemüht, immer mehr öffentliche Äußerungen zu kriminalisieren. So kritisiert der Deutschland-Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) von 2013, Deutschland lasse strafwürdige Äußerungen zu, weil man dort nicht verstehe, wo „Rassismus“ beginne. Die EU-Behörden folgen dem Konzept „Rassismus ohne Rasse“, wonach jede Diskriminierung als Rassismus gelten kann – was den Begriff freilich zum Idiotenwort macht.

Doch genau solcher Nonsens erlaubt es, die Meinungsfreiheit anzugreifen. Derselbe Bericht verlangt von den Behörden, „alle Äußerungen zu sanktionieren oder sogar zu verbieten, die Haß auf der Basis von Intoleranz verbreiten“. Dieser entgrenzte Toleranzbegriff widerspricht der Pariser Unesco-Erklärung von 1995, wonach menschenrechtsfeindliche Praktiken und Ideologien nirgends toleriert werden sollen. Würde die ECRI-Richtlinie in nationale Gesetze umgesetzt, hätten wir in Europa eine Unterdrückung der Meinungsfreiheit wie in faschistischen oder stalinistischen Diktaturen. 

„Mein Rat an Sie: Entrüstung und Verdächtigungen meiden“

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Wie gelingt es, den Anschein zu erwecken, es würden nicht demokratische, sondern extremistische Meinungen ausgegrenzt?

Flaig: Just um diese Trennlinie zu verwischen, agieren in unserer Republik Hunderte von Büros und NGOs. Sie haben sich vervielfacht, seitdem die damalige Familienministerin Manuela Schwesig mit Millionensummen den „Kampf gegen Rechts“ subventionierte. Soziologen und Psychologen, die sonst arbeitslos wären, werden nun dafür bezahlt, jederzeit und überall „rechtes“ Gedankengut und Verhaltensweisen zu entdecken und zu bekämpfen und müssen unentwegt unter Beweis stellen, wie groß die Gefahr ist, die sie bekämpfen. Logischerweise weichen sie jede Definition von „rechts“ auf, um die Grenze dessen, was „rechts“ist, immer weiter in die Mitte zu verschieben.

Das funktioniert ähnlich wie bei den Überwachungsorganen in sozialistischen Diktaturen, die ihre Existenz dadurch rechtfertigten, daß sie überall „Klassenfeinde“ aufspürten. Eine Rolle spielt auch, daß die politische Elite überwiegend eine intellektualitätsfeindliche Klasse, die mediale Elite de facto eine bildungsferne Klasse geworden ist. Sowie die enorme Schwierigkeit vieler Abgeordneter, im Plenarsaal zwischen Verunglimpfung und zutreffender Aussage zu unterscheiden. Automatisch werden dann die Grenzen des parlamentarischen Anstands gesinnungspolitisch gezogen. 

Was könnte diese Zeitung dazu beitragen, um die gesellschaftliche Lage zu befrieden?

Flaig: Indem sie sich des Tonfalls des Entrüstetseins enthält und nur selten in die Rolle des Anklägers schlüpft. Vor allem aber, indem sie informiert, statt zu verdächtigen. Wenn Verdacht geäußert wird, so hat er, sogar wenn er wahrscheinlich ist, die Form einer Frage anzunehmen. Das klingt defensiv. Aber es erzieht zu einer Haltung, in der die Wahrheit Leitidee ist und die journalistische Aufrichtigkeit der jederzeit gültige Maßstab. 

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Prof. Dr. Egon Flaig, der Essayist und ehemalige Ordinarius für Alte Geschichte an der Universität Rostock lehrte in Freiburg und Göttingen, am Max-Planck-Institut für Geschichte und hatte eine Gastprofessur am Collège de France bei Pierre Bourdieu inne. Ab 1998 war er an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald tätig und von 2008 bis zu seiner Emeritierung 2014 in Rostock. 

JF 28/19

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