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Migrantenströme über das Mittelmeer: Seenotrettung – ein rechtliches und moralisches Dilemma?

Migrantenströme über das Mittelmeer: Seenotrettung – ein rechtliches und moralisches Dilemma?

Migrantenströme über das Mittelmeer: Seenotrettung – ein rechtliches und moralisches Dilemma?

Seenotrettung
Seenotrettung
Migranten bringen sich mit ihren ungeeigneten Booten auf dem Mittelmeer selbst in Gefahr und hoffen auf Rettung, wie in diesem Fall durch die Ocean Viking Foto: picture alliance / AP Photo
Migrantenströme über das Mittelmeer
 

Seenotrettung – ein rechtliches und moralisches Dilemma?

Die moralische Erpressung im Fall der Migranten im Mittelmeer, wie sie Nichtregierungsorganisationen im Verbund mit Menschenschleppern betreiben, stellt Europa vor ein Dilemma. Dabei würde eine konsequente Seenotrettung durch die EU das Problem lösen – inklusive Rücktransport der Migranten nach Afrika.
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Das Thema Seenotrettung im Mittelmeer spaltet mehr denn je. Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg verortet hier ein unauflösbares moralisches Dilemma, das er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wie folgt beschrieb:

„Europa sieht sich einer permanenten moralischen Erpressung ausgesetzt, die von kriminellen Schleuserbanden planmäßig inszeniert wird. Sie bringen Migranten mit deren Einverständnis absichtlich in Seenot und lösen damit einen menschenrechtlichen Imperativ aus, auf den Europa reagieren muß. Europa muß retten; wenn es nicht rettet, wird es für den Tod der Migranten verantwortlich gemacht. Rettet es aber und bringt die Menschen in europäischen Häfen an Land, leistet es den entscheidenden Beitrag dazu, daß das Kalkül der Schlepper aufgeht und immer mehr Menschen aufs Mittelmeer gelockt werden. Wenn Rettung aus Seenot die Eintrittskarte nach Europa ist, dann werden Menschen sich ohne Ende in vorgeplante Seenot begeben und was immer Europa tut, nicht alle werden gerettet werden können. Die Schlepper verdienen, und Europa versinkt immer tiefer in moralischer Selbstanklage.“

Klare Sprache mit starkem sittlichen Impuls − dies ohne Sympathie zu lesen, fällt schwer. Dennoch stellt sich die Frage nach der Plausibilität des Gedankengangs. Mit dem Begriff Dilemma schlägt Graf Kielmansegg eine Brücke zwischen der „Seenotrettung“ und dem altbekannten Phänomen der ethischen und/oder juristischen (strafrechtlichen) Pflichtenkollision. Fast immer speist sich das Dilemma aus der Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht. Egal, ob die vor einer brisanten Entscheidung stehende Person sich zum aktiven Einschreiten (Handlung) oder zum passiven Abwarten (Unterlassung) entschließt – zwangsläufige Folge ihres Verhaltens ist der Tod eines oder mehrerer Menschen.

Luftsicherheitsgesetz zeigt das Dilemma

Leidenschaftlich diskutiert wird dieses Dilemma am Trolley-Beispiel der britischen Moralphilosophin Philippa Foot (1920 – 2010). Eine Straßenbahn (englisch: trolley) rast auf abschüssiger Stecke unkontrollierbar auf fünf Personen in einem schmalen Tunnel zu. Ein Mitarbeiter der Bahngesellschaft kann durch sofortiges Umstellen einer Weiche deren Leben retten, aber nur um den Preis des Todes einer weiteren Person, die sich ohne Ausweichmöglichkeit auf dem Nebengleis befindet.

Unterstützer der NGOs demonstrieren ihre Solidarität mit Gruppen wie Sea Eye und Mission Lifeline Foto: picture alliance/Daniel Bockwoldt/dpa

Daß es hier keineswegs nur um realitätsferne Denksportaufgaben geht, zeigt das Luftsicherheitsgesetz. Dessen erster Entwurf ermächtigte die Luftwaffe, ein zur Durchführung eines Terroranschlags entführtes Flugzeug auch dann abzuschießen, wenn sich „tatunbeteiligte Personen an Bord“ befinden. Hintergrund des Gesetzes war der Anschlag auf das World Trade Center im September 2001.

Mit Urteil vom 15. Februar 2006 verwarf das Bundesverfassungsgericht die Abschußermächtigung als grundgesetzwidrig, da sie die Menschenwürde (Art. 1 GG) und das Recht der unschuldigen Flugzeuginsassen auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) verletzen würde. Den Einwand, durch den Abschuß könne eine viel größere Personenzahl am Ort des geplanten Anschlags, etwa einem Hochhaus oder einem vollbesetzten Fußballstadion, gerettet werden, ließ das Gericht nicht gelten. Es zog sich auf die These vom unendlichen Wert jedes einzelnen Menschenlebens zurück. Quantitative Aufrechnungen seien daher unzulässig. Auch der Hinweis, die Insassen des Fliegers seien sowieso dem Tode geweiht und müßten spätestens beim Terroranschlag sterben, konnte die Richter nicht umstimmen.

Muß Europa retten?

Das Dilemma der Pflichtenkollision korrespondiert mit dem Grundsatzstreit zwischen Pflichtenethik und Handlungsfolgenethik. Dieser hat beachtliche Schnittmengen mit Max Webers berühmtem Gegensatzpaar Gesinnungsethik/Verantwortungsethik.

Allerdings fragt sich, ob die aktuell praktizierte Form der Seenotrettung überhaupt in das Dilemma einer Pflichtenkollision führt. Gibt es eine moralische oder rechtliche Pflicht zu diesen Rettungsmissionen, also zur systematisch geplanten und betriebenen Rettung von Migranten mit eigens dafür ausgestatteten, vor der afrikanischen Küste wartenden Schiffen? Irritierend ist schon Graf Kielmanseggs Aussage „Europa muß retten“; denn die Normen von Moral und Recht, hier insbesondere See- und Völkerrecht, richten sich nicht an Erdteile, sondern an Individuen und souveräne Völkerrechtssubjekte. Selbst die präzisierende Aussage „Die EU muß retten“ würde hier nicht weiterhelfen, weil der europäische Staatenverbund zwar als „abgeleitetes“, aber nicht als souveränes Völkerrechtssubjekt gilt.

Am Einsatz der Grenzschutzagentur Frontex nahm auch das britische Küstenwachschiff HMC Protector teil (Archivbild) Foto: (c) dpa

Als Adressaten eines solchen Rettungsgebots kommen also nur souveräne Staaten in Betracht. Welche Argumente stützen aber beispielsweise die These, die Bundesrepublik Deutschland trage hier Verantwortung? Setzt die Bundesregierung die Migranten etwa in seeuntüchtige Schleuserboote oder schafft sie andere konkrete Gefahrenlagen, die unter dem Aspekt der Individualentschädigung zu einer organisierten Seenotrettung verpflichten könnten? Natürlich nicht.

Immer wieder wird behauptet, daß Syrien und Libyen gescheiterte Staaten mitten im Bürgerkrieg seien, deren Städte und Auffanglager keinem (tatsächlichen oder angeblichen) Flüchtling zuzumuten seien. Das mag zutreffen, wirft dann aber gleich die Frage auf, welche fremden Mächte durch Militäraktionen oder „Kolonialismus“ beachtlichen Anteil daran haben, daß beide Länder zu „failed states“ verkümmern konnten. Nur diese Mächte könnten − eventuell − rechtlich oder moralisch zu einer staatlich organisierten Seenotrettung verpflichtet sein.

Der deutsche „Hippie-Staat“ läßt sich erpressen

Hinzu kommt, daß sich die Migranten an Libyens Küste im Zusammenwirken mit verbrecherischen Schleuserbanden höchst freiwillig in Seenot begeben. Dadurch bauen sie eine zynische Erpressungskulisse auf, die nicht nur humanitätsbeflissene, auf staatliche Fördermittel pochende Kirchenfunktionäre und Nichtregierungsorganisationen (NGO’s), sondern auch den „von Gefühlen geleiteten Hippie-Staat Deutschland“ (Anthony Glees) beeindruckt. Der gute Wille sei niemandem abgesprochen, aber wer auf diese Unmoral mit organisierten „Rettungsmissionen“ und Transport der Migranten nach Europa reagiert, macht sich de facto zum Komplizen der Schleuserbanden. Niemand käme auf die Idee, nachts am Berliner Kurfürstendamm vorsorglich Rettungshubschrauber und Krankenwagen zu stationieren, weil dort hin und wieder illegale Autorennen veranstaltet werden.

Festzuhalten bleibt, daß sich hier keine Pflichtenkollision und in der Konsequenz auch kein ethisches oder juristisches Dilemma nachweisen läßt, jedenfalls nicht für EU-Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland (was nicht ausschließt, den Komplex Seenotrettung als politisches Dilemma zu begreifen). Diese Länder sind zu „Rettungsmissionen“ im Mittelmeer nicht verpflichtet. Das heißt umgekehrt aber nicht, daß sie dazu keine Berechtigung hätten. Teils der Seenotrettung, teils der Grenzsicherung dienten etwa die Operationen „Mare Nostrum“ 2013/14 (Italien, Slowenien), „Triton“ 2014 bis 2017 (EU in Gestalt der Grenzschutzagentur Frontex), „Themis“ 2018/19 (wie „Triton“) und „Sophia“ von 2015 bis 2019 (mit Beteiligung der deutschen Marine). Die Zahl der von ihnen im Mittelmeer meist vorsorglich aufgenommenen Migranten wird auf ca. 260.000 geschätzt. Obendrein sollen über 100.000 „Boat People“ auf NGO-Schiffen aufgenommen worden sein.

Pflicht zum Transport nach Europa gibt es nicht

Die wichtigste Unterscheidung betrifft indes den Gegensatz von organisierter „Rettungsmission“ und spontaner Seenotrettung im konkreten Unglücksfall. Einerseits muß sich niemand moralisch erpressen lassen und mit fragwürdigem Aktionismus dem Kalkül der Schlepperbanden dienen. Andererseits ist jeder Schiffsführer auf hoher See innerhalb seiner Möglichkeiten verpflichtet, unabhängig von Nationalität, Status und Umständen, in denen sich die Hilfesuchenden befinden, unverzüglich Hilfe zu leisten, wenn er über eine konkrete Notsituation informiert wird. Dies folgt aus dem „Internationalem Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See“, (Solas 1974).

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach sich unlängst für staatliche Seenotrettungseinsätze aus Foto: picture alliance/Christoph Soeder/dpa

Ergänzend verständigten sich die Vertragsstaaten auf das „Internationale Übereinkommen von 1979 zur Seenotrettung“ (SAR-Konvention 1979), das koordinierende Details wie die Rettung Schiffbrüchiger aus der Luft regelt und beispielsweise auch fordert, „Hilfesuchende schnell an einen sicheren Platz zu bringen“. Das wiederum ist nach ungeschriebenem Völkergewohnheitsrecht in der Regel der nächstgelegene (nordafrikanische) Hafen. Eine Pflicht weiter entfernt liegender Staaten wie Italien, Malta oder Griechenland anzusteuern, Rettungsschiffen die Hafeneinfahrt zu gestatten, kennt das Seevölkerrecht nicht.

Die von Bischöfen, selbsternannten Kulturschaffenden und anderen Laienpredigern der unkontrollierten Massenzuwanderung gestreute Behauptung, Andersdenkende wollten Migranten im Mittelmeer ertrinken lassen, ist daher absurd. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Der Streit über „Push- und Pull-Faktoren“ vernebelt die Tatsache, daß die Bootsfahrten aufs Mittelmeer auch von der Erwartung angestoßen werden, rasch auf ein NGO-Schiff umsteigen zu können, das dann Kurs auf den Hafen eines EU-Landes nimmt − Weiterreise nach Deutschland inbegriffen.

Seenotrettung ja, ohne Weitertransport nach Europa

Das funktioniert nicht immer reibungslos. 23.000 seit 2013 im Mittelmeer ertrunkene Menschen haben einen furchtbaren Preis für ihren naiven Traum vom Leben im gelobten Land bezahlt. Etliche von ihnen wären noch am Leben, wenn die Vernunft nicht ständig von einer universalistischen Hypermoral verdrängt würde. Die meisten Toten waren junge Männer, keine Flüchtlinge im Sinne des Art. 16a GG oder der Genfer Konvention, nicht einmal subsidiär schutzberechtigt und gewiß nicht die ärmsten Bürger ihrer Herkunftsländer.

Vor wenigen Tagen plädierte Angela Merkel für die Wiederaufnahme staatlicher „Rettungsmissionen“. Dafür gibt es Argumente, das stärkste ist der Lebensschutz. Leider vergaß Merkel zu erwähnen, daß der komplette „menschenrechtliche Imperativ“ (Graf Kielmansegg) dann lauten muß: Seenotrettung ja! Weitertransport nach Europa nein!

Migranten bringen sich mit ihren ungeeigneten Booten auf dem Mittelmeer selbst in Gefahr und hoffen auf Rettung, wie in diesem Fall durch die Ocean Viking Foto: picture alliance / AP Photo
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