Der Krieg verwirrt die Begriffe, heißt es schon bei Thukydides, einem der ältesten und auf jeden Fall dem bedeutendsten Geschichtsschreiber der Antike (um 460 bis 395 vor Chr.). Ihm haben wir die Aufzeichnungen über den Peleponnesischen Krieg zu verdanken, und wie sehr das begriffliche Instrumentarium auch hierzulande durcheinander geraten ist, zeigen die Reaktionen auf ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts.
Nach diesem Urteil darf ein muslimischer Schüler weiter an seinem Gymnasium nach islamischem Ritus beten. Die Schule muß ihm einen Gebetsraum stellen. Nun ist von Aufkündigung der Neutralität an staatlichen Schulen die Rede bis hin zu Bravo-Rufen für die Toleranz in unserem Staat. Die Verwirrung ist groß.
Apropos Thykidides: Er hat im fünften Buch seiner Geschichte des Peleponnesischen Kriegs einen eindrucksvollen Dialog wiedergegeben zwischen den Gesandten Athens und den Bewohnern der Insel Melos. Athen wollte die Insel notfalls mit Gewalt in sein Herrschaftssystem eingliedern, und der Dialog zeigt mit dramatischer Wucht die Machtfrage auf. Nachdem die Leute aus Melos ihre Ansichten dargelegt haben, sagt der Gesandte Athens lapidar: „Die Athenische Regierung hat nicht die Absicht, in eine Erörterung darüber einzutreten, ob sie ein historisches Recht hat, die Eingliederung der Insel Melos in ihren Lebensraum zu verlangen, sie verspricht sich von solch einer Erörterung keinerlei nützlichen Ergebnisse.“ Denn, so die Quintessenz aus diesem Dialog, „der Mächtige tut, was er will, und der Schwache das, was er muß“.
So ist, vielleicht weniger ziseliert, das Denken radikaler Muslime. Der Mächtige tut, was er will – wenn er es kann. Auch dafür gibt es Suren im Koran. Offenbar wird in Berlin langsam klar, wer mächtig ist – oder zumindest, wer schwach ist. Mit der „Aufkündigung der Neutralität an staatlichen Schulen“ (so der integrationspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Kurt Wansner) hat das Gericht nicht nur einem potentiellen Run auf religiöses Brauchtum den Weg geebnet. Es hat vor allem dem orthodoxen Islam und seinem radikalen Denken eine Bresche geschlagen, die so leicht nicht wieder zu schließen sein wird. Denn es geht nicht um ein einfaches Gebet, eine Frömmigkeitsübung oder ein individuelles religiöses Vergnügen. Wo einmal eine Moschee stand, ist „heiliger Boden“, der auf keinen Fall wieder aufgegeben werden darf, notfalls muß man ihn zurückerobern. Das lernen muslimische Kinder schon an orthodoxen Koranschulen.
Und sie lernen noch mehr. Zum Beispiel, daß die Welt eingeteilt ist in ein Haus des Friedens (wo der Islam herrscht), in ein Haus des Krieges (wo die Ungläubigen herrschen) und in ein Haus des Waffenstillstands (wo der Islam bald die Herrschaft erlangen kann).
Die verwirrten Berliner Reaktionen zeugen von abendländischem Gutmenschentum. Wir haben es aber in den Augen radikaler Muslime nicht mit dem griechisch-jüdisch-christlichen Kulturkreis zu tun oder mit der Herrschaft des Rechts, dem Primat des Rechtsstaats oder der Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative.
Es gibt keinen islamischen Montesquieu, Locke oder Hobbes. Kemal Atatürk hat es versucht – aber die Türkei, so kann man sagen, versucht es immer noch. Die Trennung zwischen Staat und Religion soll auch in Europa zurückgeschraubt, Europa ein Haus des Friedens werden. Da ist jeder noch so kleine Schritt willkommen. Ein Gebetsraum in Schulen ist solch ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Macht.
Ihm werden andere folgen. Denn der Islam ist eine politische Religion. Der Koran ist nicht nur Bibel, er ist gleichzeitig bürgerliches Gesetzbuch. Es gibt allein 500 Koranverse, die Probleme des Straf-und Zivilrechts behandeln. Der Islam erhebt den Anspruch, gleichzeitig religiöser Glaube und Staat – din wa daula – zu sein. Er hält an einem in sich geschlossenen Rechtssystem fest, das auf dem Koran, auf Aussprüchen des Propheten Mohammed und den aus diesen beiden Quellen abgeleiteten Interpretationen der mittelalterlichen Rechtsschulen beruht. Aus dieser dreifachen Wurzel ist die Scharia entstanden, das Rechtssystem mit den für uns unmenschlichen Strafen.
Das Wort Islam bedeutet nicht Friede, wie hier und da gesagt wird, sondern Hingabe, Ergebung in den Willen Allahs. Aus dieser Geisteshaltung der Unterwerfung entsteht dann Friede – vielleicht.
Diesem Frieden der Unterwerfung ist Berlin nun einen Schritt nähergekommen. Das Urteil ist ein Präzedenzfall, es wird als solcher genutzt werden. Die Diskussion der westlichen Politiker und Gutmenschen geht an der Realität islamischen Denkens vorbei. Dieses Denken sieht in dem Urteil einen Schritt der Unterwerfung, einen Akt von Dhimmis, den Nicht-Muslimen oder Menschen zweiter Klasse. Das mag dem Schüler nicht klar sein. Das mag auch anderen Muslimen nicht klar sein. Und auch den Gutmenschen der Integration ist das nicht klar.
Ein Mann wie Thilo Sarrazin hätte da weniger Schwierigkeiten. Der kann ja auch zwischen Mächtigen und Schwachen unterscheiden und wüßte: Diese Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Sie geht erst los.