Wer über Delitzsch die Stadt ansteuert, freut sich übers neue Messegelände. Das BMW-Terrain nährt Aussicht auf „mittelfristig über 5.000 Arbeitsplätze“. Weiter führt die Straße kilometerlang durch den von vietnamesischen Reklameschildern aufgehellten „rust belt“ (Rostgürtel) der Stadt. Dann sind wir am Ring.
Leipzig präsentiert sich als stattliche Stadt. Die Innenstadt ist, nicht zuletzt dank dem Pleitier Schneider, in gediegenen Formen wiedererstanden. Das Kaufhaus Bräuniger ist zu wuchtig geraten, doch der Marktplatz mit dem Alten Rathaus gefällt als einer der schönen Plätze in deutschen Städten. Über architektonische Langeweile ist leicht hinwegzusehen. Anders als Fußgängerzonen westdeutscher Großstädte sind die Straßen zwischen Augustusplatz und Ring sauber, belebt von freundlichem Menschengewimmel. Goethe blickt zufrieden vom Standbild vor der Börse: „Mein Leipzig lob’ ich mir.“ Warum also empört sich Erich Loest („Völkerschlachtdenkmal“) über Genossenwirtschaft, will gar von Leipzig nach Halle emigrieren?
In der Thomaskirche dirigiert ein Stadtführer eine Gruppe zu Ernst Rietschels Tumba für den Markgrafen Dietrich III. von Wettin († 1307). Die Grabplatte gehört zu den aus der Paulinerkirche geborgenen Kunstschätzen. Der Führer irritiert die rüstigen Rentner aus Potsdam: Die Sprengung 1968 „war eine der übelsten Kulturbarbareien der Kommunisten“.
Dann verweist er auf den spätgotischen Paulus-Altar: Hier, an fremdem Ort, solle er bleiben zur Mahnung an Akte fortgesetzter Barbarei. Als es darum ging, den Wiederaufbau der Paulinerkirche zu verhindern, wirkten Universitäts-Spitzen, alte Genossen, westliche Spät-68er sowie Vertreter der Evangelischen Kirche zusammen. Die hätten anfangs selbst den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche abgelehnt. Wenn der lizenzierte Stadtführer weiter so gegen die geschichtspolitische Ästhetik der derzeit Mächtigen loslegt, könnte er Ärger kriegen. Das Betongerippe, die von einer wellig fließenden Betonfassade eingerahmte Simulation der Paulinerkirche neben dem sozialistischen Klotz, macht klar: Was Ulbricht begann, vollenden die Wessis in demokratischer Arroganz, in Beton und Glas.
Im Aufzug des Völkerschlachtdenkmals ist eine junge Afrikanerin ratlos: „Ich verstehe nicht.“ In der „Ruhmeshalle“, wo der Besucher EU-gerecht über das Momument aufgeklärt wird, stehen Erklärungen auf Deutsch, Englisch, Französisch. Russisch fehlt. Wie war das doch 1813, wie 1989 in Leipzig?
Herbert Ammon lebt als Historiker und Publizist in Berlin.