Vorige Woche ist die Europäische Union (EU) beerdigt worden. Es war ein Kinderbegräbnis, es gab nicht viel zu regeln, keine Erbschaft zu verteilen. Aber die Betroffenheit überall ist dennoch groß. Alle Angehörigen müssen sich auf neue Lagen einstellen. Klar ist nun: Ein „europäisches Haus“ mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik kann nicht per bloßer Verabredung als bürokratische Superstruktur errichtet werden. Die Zeitungsanzeige der acht Euro-Dissidenten, betreffend die Haltung Europas zum Irak-Konflikt, spricht da eine eindeutige Sprache. Die Dissidenten hatten „Brüssel“, also die politischen Instanzen der EU, den Ministerrat, die Kommission, das Straßburger Parlament, nicht einmal informiert, geschweige denn konsultiert, obwohl es sich um eine erstrangige, unbedingt meldepflichtige Sache handelte, um eine Schicksalsfrage. Brüssel wurde endgültig zur Karikatur, zur diplomatischen Lachnummer. Jetzt läßt sich nur noch auf ein „organisches“ Wachsen der europäischen Einigkeit hoffen, darauf, daß bestimmte nationale Kraftzentren einen Magnetismus entfalten, der sie für die umliegenden Partner attraktiv macht, so daß sie sich spontan daran ausrichten. Derjenige wird nach außen einflußreich und integrativ, der in erster Linie seine inneren Verhältnisse optimal und vorbildlich in Ordnung zu halten versteht. Sind Frankreich und Deutschland solche Kraftzentren, so daß sich ihr hochgemutes Reden von der „natürlichen Doppelspitze“ rechtfertigt? Im Augenblick muß man daran zweifeln. Mit Sicherheit hat die aufdringliche Doppelspitzen-Rhetorik der letzten Zeit dazu beigetragen, bestimmte EU-Partner zu verdrießen und sie zu ihrer beispiellosen Illoyalität, wie sie sich in der Zeitungsanzeige niederschlug, aufzureizen. „Wenn schon Spitze“, so werden sie möglicherweise kalkuliert haben, „dann lieber gleich die USA. Weder Frankreich noch Deutschland haben irgendwelche Spitzenqualität.“ Frankreich, zwar atomar gerüstet und über das Veto im Sicherheitsrat verfügend, genießt zur Zeit dennoch wenig innereuropäische Glaubwürdigkeit. Es setzt sich zu oft, so etwa in der Frage der Subventionen für die Landwirtschaft, dem Verdacht des reinen nationalen Egoismus aus, auch dem Verdacht des überbordenden, „uneuropäischen“ Stolzes auf eigene Errungenschaften und Traditionen. Speziell in Spanien und Italien werden manche Töne der kulturellen französischen Rhetorik als angeberisch und überheblich empfunden. Deutschland, einst ökonomisch und organisationstechnisch unbestreitbar Vorbild und geopolitisch in günstig zentraler Europalage, ist von seinen führenden Schichten heruntergewirtschaftet worden. Es hinkt in entscheidenden Bereichen (Einschränkung des Sozialstaats, Bildungspolitik, Investitionskraft) hoffnungslos hinterher und befleißigt sich zudem einer national-masochistischen Schuldrhetorik, die die übrigen Europäer abstößt und argwöhnisch werden läßt. Kein Südeuropäer, Ostmitteleuropäer oder Skandivavier möchte sich unter den obwaltenden Umständen an einer deutsch-französischen Doppelspitze orientieren müssen, am wenigsten in der Außen- und internationalen Politik. Die Ostmitteleuropäer, traumatisiert von der jahrzehntelangen ruinösen, die Nationen zerstörenden Sowjetpolitik, mißtrauen der Verteidigungsfähigkeit (und -willigkeit) ihrer künftigen EU-Partner, verlassen sich lieber auf unmittelbaren amerikanischen Schutz vor der (realen oder halluzinierten) russischen Bedrohung. Für die angehende „EU-Erweiterung“ sind das alles alarmierende, letale Tatbestände. Erweitert wird nur eine teure, im Leerlauf vor sich hinklappernde Bürokratie. Es wird „neuverteilt“ werden, und alle werden am Ende unzufrieden sein, werden mehr bezahlen müssen, besonders die Deutschen. Dem Debet auf der Sollseite steht kein Zugewinn auf der Habenseite gegenüber, nicht einmal ein geistiger. Faktisch niemand weiß mehr, was „Europa“ eigentlich sein soll, besonders nachdem – auf amerikanischen Druck hin – ein Beitritt der Türkei ins Spiel gebracht wurde. „Europa“ erscheint seitdem nur noch als logistische Größe im weltpolitischen Spiel der USA, als Glacis für den Aufmarsch gegen den Irak, als Nachschub- und Ruheraum einer raumfremden Macht, die an einer europäischen Einheit nicht interessiert ist. Der Krieg der USA gegen den Irak kommt zur allerungelegensten Zeit. Die Amerikaner werden sich in seinem Gefolge militärisch und kulturell üppig in Ostmitteleuropa einrichten, und von einer genuin europäischen Identität wird weniger denn je die Rede sein.Die Zeitungsanzeige der Acht lieferte das Menetekel. Sie brachte an den Tag, daß in Brüssel in all den Jahren noch nicht einmal die vielbesprochenen „Hausaufgaben“ einer europäischen Einigung erledigt worden sind. „Europa“ gleicht einem Narrenschiff ohne Führung, von dem niemand weiß, wo es hinsteuert. Eine deutsche Regierung in Berlin müßte jetzt mit äußerster Kaltblütigkeit und Übersicht agieren. Potientiell könnte unser Land ja durchaus Kraftfeld mit Magnetfunktion sein, doch dazu bedürfte es zumindest geschickter Sozial- und Polit-Ingenieure mit präzisen Visionen. Was wir zur Zeit haben, sind nur Totengräber.