John Stuart Mill, Wortführer der englischen Liberalen im neunzehnten Jahrhundert, mochte die Konservativen nicht. Die Tories, meinte er verächtlich, seien die dümmste Partei, die man sich vorstellen könne: zu jedem beliebigen Thema hätten sie Argumente pro, aber auch Argumente contra. Man wisse nie, woran man bei ihnen sei.
Das war polemisch gemeint, aber nicht ganz falsch. Denn es ist ein Grundzug konservativen Empfindens – Denkens wäre fast zu hoch gegriffen –, die Dinge von zwei Seiten zu betrachten. Diese Kehrseitenempfindlichkeit macht sie schwer kalkulierbar, hat sie und ihre Anhänger aber auch vor manchen Dummheiten bewahrt, denen die programmatisch eindeutigen Parteien der Rechten und der Linken jahrhundertelang nachgelaufen sind.
Mißtrauisch gegen die allzu Gläubigen
Konservative halten sich an den biblischen Rat, auf niemanden und auf nichts zu schwören. Sie sind vorsichtig und mißtrauisch gegen die allzu Gläubigen gleich welcher Couleur und schieben die Beweislast für Neuerungen denen zu, die sie verlangen. Wenn es keine handfesten Gründe gibt, die Dinge zu verändern, bleibt alles beim alten. Denn sie haben die alte griechische Spruchweisheit nicht vergessen, wonach beim Umsturz immer der größte Lump an die Spitze kommt.
Der Konservative verteidigt nicht das Bestehende, schon gar nicht um jeden Preis, sondern glaubt, um es mit den Worten des englischen Unterhausabgeordneten Enoch Powell (1912–1998) zu sagen, daß die Institutionen weiser sind als diejenigen, die sich ihrer bedienen: Institutionen jeglicher Art, Parlamente genauso wie Ehe, Schulen und Gerichte. Sie geben dem Leben Bestand und bewahren es vor dem Auf und Ab des Zeitgeistes, der von allen Ratgebern der dümmste ist.
Ideologische Endzeitversprechungen
Alle Revolutionäre, gleich ob von links oder von rechts, erhielten ihren Zulauf durch das Versprechen von irgend einer fernen, aber herrlichen Endzeit. Sie träumten vom Land, in dem Milch und Honig flossen, und versprachen ihren Anhängern großzügig, sie eben dorthin zu führen. Keiner von ihnen hat sein Versprechen gehalten, im Gegenteil haben die größten Verführer die größten Katastrophen verursacht. Beispiele dafür gibt es genug, und keineswegs nur in der deutschen Geschichte.
Der Sinn für Vorsicht und Mißtrauen hat es schwer in einer Zeit, die vom Fortschritt, einem leeren Begriff, geradezu besessen ist: Fortschritts- und Wachstumsversprechen, wohin man schaut. Franz Josef Strauß war einer von denen, die den Widerspruch zwischen konservativer Skepsis und progressivem Reinhauen nicht nur aushalten, sondern auf die Spitze treiben wollten. Deshalb erfand er die Behauptung, konservativ zu sein bedeute, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren. Wer heute noch so reden wollte, würde sich lächerlich machen.
Fortschritt ist Preis nicht wert
Die Leute merken, daß der Fortschritt den Preis, den er von ihnen immer häufiger verlangt, immer seltener wert ist. Die Bäume wachsen, aber sie wachsen nicht in den Himmel: Das erklärt die Renaissance konservativen Empfindens, gibt ihm eine neue Chance, quer zu allen herkömmlichen Begriffen, vertrauten Fronten und eingefahrenen Richtungen. Hoffentlich nicht zu spät.
JF 20/13
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Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der FAZ und danach bis 2008 politischer Chefkorrespondent der Welt. Heute arbeitet er als freier Publizist und ist einer der drei Sprecher der Euro-kritischen Partei Alternative für Deutschland (AfD).