Als Schulbeispiel für die Verstelltheiten, die Sprache politisch aufrichtet, mag der neue Großessay „Europa ist ein Freiheitsprojekt“ des deutsch-iranischen Autors, Orientalisten und Musterbürgers Narvid Kermani gelten, der – vielfach dekoriert und neuerdings Beisitzer im Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung – zu erklären versucht, woher „Europa“ kommt und wohin es gehen sollte.
Modernerweise sieht der Autor Europa als ein „Projekt“, das Aufklärung und Französische Revolution mit „Emphase“ unter dem Banner von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ begannen, das von Geistkämpfern wie Victor Hugo und Stefan Zweig fortgesetzt wurde und das Jean Monnet und Robert Schuman nach dem Zweiten Weltkrieg retteten, indem sie „mehr als nur Kohle und Stahl im Blick hatten, nämlich nichts Geringeres als eine friedliche und gerechte Welt. Die Montanunion war das Mittel, um die verfeindeten Völker zusammenzubringen. Sie war nicht der Zweck.“
Denkfehler oder Demogagie
Im letzten Teil dieser Behauptung, in diesem laufend aufgerufenen Bild der großen europäischen Völkerverständigung mittels Wirtschaft und Einheitswährung, gründen entweder ein fataler Denkfehler oder die ganze Demagogie, denn die Wirtschaft, die montane ebenso wie jene der „Finanzprodukte“, hat zuerst immer nur die Rendite zum Ziel. Insofern erscheint sie wesenhaft totalitär und fand unter früheren Diktaturen – ganz so, wie jetzt die Volksrepublik China ihr Vorzugsterrain ist – hervorragende Reproduktionsbedingungen, einmal abgesehen davon, daß Werbung der einzige öffentliche Bereich sein mag, in dem die Lüge Prinzip werden darf, vielleicht muß.
Generiert wurde das große europäische „Projekt“ nach Kermani maßgeblich durch „Angehörige der ethnischen und sprachlichen Minderheiten, die von dem Chauvinismus innerhalb der Nationalstaaten persönlich betroffen waren“, ebenso wie von „überproportional vielen jüdischen Intellektuellen.“ Sie alle betreiben laut Kermani gleichermaßen ein religiöses wie kantisches wie gleich noch hegelianisches Prinzip zur Durchsetzung der Universalität der Freiheit und bezwingen quasi als Lichtengel die finsteren Mächte der bösen entgegengesetzten „Idee einer Einheit von Kultur, Sprache, Religion und Blut“, sie „wurden vertrieben oder verbannt, starben auf der Flucht oder im Vernichtungslager.“ Heute wären es nach seiner Argumentation erwartungsgemäß die „Rechtspopulisten“, deretwegen neue schlimme Konflikte auszubrechen drohen und die errungene Pluralität gefährdet ist. – Die Sportlichkeit mit der allerorten der höchst problematische Begriff Freiheit lockere Verwendung findet, sollte mindestens der philosophisch Vorgebildete fragwürdig finden.
Kalter wirtschaftlicher und finanzkapitalistischer Pragmatismus
Ich sehe wohl, daß sich auf das strapazierte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ diffuse emotionale Vorstellungen gründen lassen, erkenne aber nicht, inwiefern diese Losung politisch irgendwo klar belastbar ist, so eindrucksvoll eingängig sie Wunschdenkern klingen mag.
Kermani hat absolut Recht, wenn er meint, wir stünden mit leeren Händen da, wenn sich Europa nur wirtschaftlich verstünde, er erkennt ebenso, daß das EU-Gebilde demokratisch kaum legitimiert und von schwachen Politikern gesteuert wird, aber er vermag nicht zu sehen, daß an seinem „Projekt“ leider kaum mehr als kalter wirtschaftlicher und finanzkapitalistischer Pragmatismus wirkte. Was darüber nämlich hinausgeht, ist ein anderes Europa, als er es meint, ein älteres, ein bei gemeinsamem christlichen Fundament höchst heterogenes, ein kulturell und sprachliche immens vielfältiges, eines der Vaterländer und Nationen nämlich und gerade keine integrierte und einnivellierte Verrechnungsgröße.
Propaganda-Irrsinn Friedensunion
Die gute alte EWG stellte in ihrem Titel noch klar, worum es ihr ging, um die zweifelsohne wichtige Wirtschaft, die Seele des Kapitalismus. Sie verstand sich im Kalten Krieg, der neuerdings als Kontext nahezu überall vergessen wird, als Gegengewicht zum gescheiterten planwirtschaftlich versteiften RGW des Ostblocks. EG und EU sind hingegen schon politisch lancierte Begriffe, die eine politische Illusion aufblasen, gerade um das Wesentlichste der Verbindung, Ökonomismus und Konsumismus, scheinbar nachzuordnen. Weil die Wirtschaft für sich keine Idee ist, ebensowenig wie das Geld es wäre, bedarf sie des permanenten politischen Marketings.
Die Mär, gerade der Ausdruck des wirtschaftlichen Primats, der Euro, garantiere den Frieden, während sich nationalstaatlich verstehende Kulturräume für eine latente Kriegsgefahr stünden, ist der dreisteste Propaganda-Blödsinn derer, die in Produktion und Konsum an der Barrierefreiheit ihrer Transaktionen interessiert sind. Mit dem Christentum, mit Kant und Hegel hat das alles weniger zu tun; und was die Französische Revolution, die brutalstmögliche Eröffnung des sogenannten bürgerlichen Zeitalters, mit „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wohl gemeint haben mag, daran messe man, was daraus in beiden Folgejahrhunderten wurde und begreife bitte dies insgesamt als komplexen „kausalen Nexus“.
Coca-Cola ist kein Freiheitexilier, sondern Billiglimonade
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ läßt sich ebenso auffassen als weltverschleißendes Prinzip, und zwar politik- wie wirtschaftsgeschichtlich. Worte mit Zuschreibungen, Konnotationen und Wunschsemantik aufzuladen und zu instrumentalisieren ist der normale Hergang im Sprechen und Schreiben, aber gerade deswegen bedarf es der permanenten Prüfung, was eine tendenziös gefärbte Sprache noch mit Tatsachen zu tun hat. Ansonsten wäre beispielsweise sicherheitshalber darauf hinzuweisen, daß Coca-Cola anstatt eines amerikanischen Freiheitselixiers vor allem eine Billiglimonade ist, ernährungstechnisch gesehen wahrscheinlich gut verkaufter Sondermüll, aufgerüstet zur Pseudoidee.
Für die meisten Begriffe, die Kermani im Sinne seiner geschichtsphilosophischen Hegelei ventiliert, hatte der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein eine treffende Gattungsbezeichnung: Mystischer Wortschatz. Ein Blick auf die vermeintlich in der arabischen Welt gerade entstehenden „Demokratien“ sollte da wohltuend desillusionierend wirken, durchaus im Sinne der Klarheit.