Zur Berliner Wahl ist alles gesagt: Die Stadt ist pleite, bleibt Hartz-IV-Hochburg und behält dabei einen Bürgermeister, der seinem politischen Vermögen nach nicht weiter der Rede wert ist, aber offenbar den Hedonismus der jungen relaxten „Bionade-Bourgeoisie“ (Deutschlandfunk) in den angesagten Stadtbezirken zu personifizieren versteht. Da Politik schon länger eher in Talk-Shows als im Parlament stattfindet, muß man sich nach solchen Ereignissen Günther Jauchs Sonntagsveranstaltung ansehen. Eindrucksvoll tragisch der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler: Er wurde bei der Wahl nicht abgestraft, weil er das Falsche gesagt hätte, sondern weil er einfach nicht der Typ ist, das Richtige zu sagen.
Noch wichtiger etwas anderes, das unbemerkt blieb. Jauch hatte Dirk Müller eingeladen, einen Börsenbroker, der mit dem Geld anderer Leute handelt und Medienruhm dadurch erwarb, daß er seinen Platz unter der DAX-Tafel hatte, so daß sein Konterfei den Fotografen zwangsläufig als physiognomisch beredter Ausdruck der aktuellen Börsenstimmung galt, die im Lande sogar noch wichtiger ist als Talkshows. Müller avancierte, weil er richtig saß und um Pointen nicht verlegen war, zum „Mister DAX“ und führt den karnevalesken Titel „Dirk of the DAX“. Nun sieht der Mann noch dazu so markig aus, daß sich Röttgen, Rösler, Wowi gegen ihn sowieso wie testosteronreduziert ausnehmen, und deshalb lädt man solch ein Gesicht bestimmt gern ein.
„Die Jungs von jenseits des Ozeans“
Als alle gerade wieder darüber orakeln, wie es mit Griechenland- und Rettungsschirm-Politik weitergehen soll, nutzt DAX-Dirk seinen Heimvorteil und stellt in etwa klar: Philipp Rösler hat schon Recht, aber was ein Politiker in Deutschland sagt, interessiert doch „die Jungs von jenseits des Ozeans“ überhaupt nicht. Goldman Sachs sei es ganz egal, was in Deutschland geredet würde. Die Politik leide an Selbstüberschätzung und meine, sie könnte die Märkte regieren. Ha! Es sei, im Gegenteil, umgekehrt: Die Politik habe den Märkten, den Jungs von Goldman Sachs, zu folgen, die sie vor sich hertreiben würden. Ein paar Gesprächkapitel später bringt er dann die dringend erforderten Vereinigten Staaten von Europa ins Spiel und findet: Genau so! Einheitliche Wirtschaft. Währungs- ohne Wirtschaftsunion läuft nicht, sonst ist der Euro futsch.
Und? Niemand der Politiker reagiert darauf. Sie sprechen einfach in ihrer Vermeidungsrhetorik weiter. Weshalb? Weil DAX-Dirk etwas rausgehauen hat, was allen so selbstverständlich ist, daß sie es gar nicht problematisieren oder kommentieren können. Das hieße Eulen nach Athen tragen. Die Regierung sollte sich einfach telefonisch oder via Mail von Goldman Sachs und all den anderen Banken und Buchhalteragenturen die Instruktionen durchstellen lassen und sich gefälligst exekutiv danach richten. Basta. Dann hätten wir alle keine Sorgen mehr und bräuchten vor allem keine Politik, zumal die sowieso hundsmiserabel ist. Über den Wert von Regierungen entscheidet viel weniger der Wähler, sondern eher Standard and Poor’s. Vielleicht werden ja bald neue Ermächtigungsgesetze fällig.
Europa als Platzhalter der Finanzindustrie
Putzig nur, daß immer noch so getan wird, als folge die EU, also Europa, einer politischen Idee, die frühere Kontrahenten aus den Schützengräben ins Eiapopeia der großen Völkerfreundschaft geführt hat und so etwas wie eine grenzübergreifende Zivilgesellschaft aufgeklärter Bürger verwirklicht, die unklar schon Karl dem Großen, deutlicher Erasmus von Rotterdam vorschwebte und von der sich der große Kant den „ewigen Frieden“ versprach. Was für ein Unfug: Die EU ist nach Auffassung ihrer wahren Klienten einzig und allein dazu da, der totalitären Finanzwirtschaft, die neuerdings Platzhalter der Ideologie ist, den Weg frei zu räumen, zumal es längst nicht mehr um Bürgerbewußtsein, sondern ausschließlich um Konsumentenverhalten geht. Daß es keine echten demokratischen Legitimationen gibt und die Kommission weitgehend administriert, macht die Sache für die Wirtschaft nicht bedenklich, sondern sympathisch unkompliziert.
Nicht der bretonische Fischer oder der Wolfsburger VW-Arbeiter oder gar der griechische Kiosk-Betreiber sind für Europa von Belang, sondern smarte Macher vom Schlage DAX-Dirks, die bereit sind, den seines Erachtens spinnerten und völlig anachronistischen Politikern schnell mal per du übers Maul zu fahren und den Kontinent ausschließlich unter dem Aspekt seiner ökonomischen Verwurstbarkeit anzuschauen. Daß Ökonomie und Finanzen von Belang sind, bestreitet niemand. Nur: Es gibt gar keine anderen Aspekte mehr. Wer sie bringt, macht sich vor den Märkten angeblich nur lächerlich.
Droht in Griechenland eine Tyrannis?
Insofern sollte vor Griechenland noch die Politik der marktgetriebenen Regierungen einfach ihren ideellen Bankrott erklären und uns alle direkt an Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch und das internationale Bankenmanagement „outsourcen“.
Übrigens: Wenn es im antiken Griechenland nicht mehr weiterging, weil die Plutokraten, Oligarchen und Aristokraten die Polis sozial völlig in Schieflage brachten, half dort nur eins – eine Tyrannis, die mit Macht und Gewalt den Stadtstaat rettete. Abwarten, ob wir demnächst in Griechenland ein neues „sozialistisches“ oder „faschistisches“ Experiment zu erwarten haben, und was aus Europa wird, wenn eine kritische Masse sich nicht mehr mit dem Durchregieren der Hochfinanz abfinden will.