Man muß der SPD zu ihrem Schritt, Thilo Sarrazin nicht aus der Partei auszuschließen, uneingeschränkt gratulieren. Es ist ein seltenes Signal der Vernunft in einem zunehmend irrational agierenden politischen Berlin. Die SPD hat sich damit um die Demokratie und das Land verdient gemacht.
Der ehemalige Berliner Finanzsenator hatte durch ein Interview mit der Zeitschrift Lettre International im Jahr 2009 und sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ eine bis heute anhaltende und überfällige Debatte um Demographie, Einwanderung und Integration angestoßen. Sarrazin gelang als Sozialdemokrat, wozu bürgerliche Politiker nicht in der Lage gewesen waren: eine Gesamtanalyse herzustellen zwischen einer seit Anfang der siebziger Jahre selbstmörderisch niedrigen Geburtenrate einerseits und anhaltender Massenzuwanderung in die Sozialsysteme andererseits.
Thilo Sarrazin hätte in der „bürgerlichen“ Partei der Kanzlerin politisch nicht überlebt – das ist das Desillusionierende zur CDU in dieser Sache. Die nicht ungewöhnliche Option des Parteiwechsels bestand für ihn nicht, weil sich die Union mit Linksaußenparteien einen widerwärtigen Überbietungswettkampf geliefert hat, wer sich noch schärfer von Thilo Sarrazin distanziert. Die „Rübe ab“-Rufe schallten am lautesten aus dem Konrad-Adenauer-Haus, das diese Methode im Fall Hohmann 2003 bereits mustergültig durchexerziert hatte.
Die SPD rückt mit ihrer Entscheidung wieder in die Mitte
1,4 Millionen verkaufte Exemplare von Sarrazins Erfolgsbuch haben die SPD-Spitze nicht unbeeindruckt gelassen. Auch fürchtet die Partei sicherlich einen negativen Effekt bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin im Herbst. Doch sie ist in einer Zwickmühle: Der Ausschluß Sarrazins hätte Stimmen kosten können, wie auch sein Nichtausschluß. Grüne und Linkspartei werden es sich nicht nehmen lassen, der SPD mangelnde Abwehrbereitschaft „gegen Rechts“ vorzuwerfen.
Sarrazin und sein Thema bleiben damit in der politischen Arena. Und: Die SPD rückt mit ihrer Entscheidung wieder in die Mitte. Sie signalisiert, daß politische Debatten nicht mit dem Ausschluß unbequemer Diskutanten erledigt werden dürfen. Es wäre ein Fortschritt, wenn dies gesamtgesellschaftlich realisiert würde. Sarrazin hat Deutschland wachgerüttelt. Seine Thesen müssen nicht nur diskutiert, sondern auch umgesetzt werden. Daß er in der SPD bleibt, ist konsequent. Eine solidarischere politische Plattform als die SPD gibt es für ihn unter den etablierten Parteien derzeit nicht.
Daß ein Politiker wie Sarrazin in der SPD bleiben kann, bedeutet auch: Der absurde „Kampf gegen Rechts“, der auf eine Einschränkung von Meinungsfreiheit und offener Debatte hinauslief, ist faktisch gescheitert. Daß dieser Kampf damit von der Partei beendet wird, die ihn unter Kanzler Schröder im Jahr 2000 ins Leben rief, ist eine verblüffende Pointe.
JF 18/11