Misrata, 24.04.2011
Die Lage im eingekesselten Misrata erscheint auf den ersten Blick weniger dramatisch als vermutet. Es herrscht reger Autoverkehr im nördlichen Teil der Stadt. Etwa die Hälfte aller Viertel hat Zugang zu Wasser und Strom. Elektroingenieur Chalid Mohamed (31): „Es ist nicht die zentrale Überland-Leitung gekappt, sondern nur lokale Verteilerleitungen bombardiert worden. Solange es Strom gibt, versorgen sich die meisten Haushalte selbst mit Grundwasser.“ Auch die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und medizinischen Gütern ist bislang gewährleistet – dank großer Lagerhallen und der Hilfslieferungen über den Hafen. Die Kommunikation nach außen funktioniert allerdings nur über Satellit.
In der Nacht greifen Gaddafi-Truppen das Stadtgebiet mit Grad-Raketen an. Donnerschläge liegen in der Luft. Etwa ein Kilometer von meiner Unterkunft entfernt im Stadtteil Schawahda trifft eine von ihnen ein Wohnhaus. Ambulanzen fahren heulend durch die Straßen. Leichen liegen auf dem Boden. Im benachbarten Merbat-Stadtviertel, das ebenfalls zu den sichersten Gebieten gehört, wird ein französischer Blogger von einer Kugel getroffen – er liegt jetzt im Koma. Ob Heckenschütze oder Blindgänger – keiner weiß Genaueres.
25.04.2011
Besuch der Krankenhäuser Hekmar und Al Helal. Alle Räume sind voll belegt. Viele Patienten werden zeitweilig behandelt und anschließend nach Hause gefahren. Hier bekommt der Besucher alles zu Gesicht: Schußverletzungen, Amputationen, zerfetzte Leichen. Dr. Johid Elfagieh: „Wir haben seit Beginn des Aufstandes in Misrata über 1.000 Tote und rund 5.000 körperlich Verletzte zu beklagen. Die meisten Opfer waren unbewaffnete Zivilisten. Wir behandeln ebenfalls verletzte Gaddafi-Soldaten. Die meisten sind Libyer, aber ich habe auch Versehrte aus Weißrussland, Nikaragua, Algerien und Mali gesehen.“
26.04.2011
Besichtigung des zerstörten Stadtzentrums. Entlang von Tripolis- und Bengasi-Straße hatten über Wochen heftige Straßenkampfe stattgefunden. Mit Schützen- und Kampfpanzern waren Gaddafi-Truppen auf den breiten Alleen vorgestoßen und hatten Scharfschützen in den Hochhäusern postiert. Die Hallen des Gemüsemarktes, Stützpunkt für Regierungspanzer, sind von NATO-Flugzeugen gezielt angegriffen und zerstört worden. Dank der Panzerbüchsen aus Bengasi konnten die Aufständischen mehrere Panzer vernichten und so die Versorgung für die Scharfschützen abschneiden. Alle von ihnen starben bei den anschließenden Gemetzeln mit Hunderten Rebellen in den Häusern. Auch nach dem Abzug der Gaddafi-Truppen aus der Innenstadt sind die beiden Hauptstraßen verwaist. Geschäfte und Wohnblöcke sind zerschossen. Feuer lodern in den Trümmern.
27.04.2011
Eine große Fähre kann endlich in den Hafen einfahren. Gestern noch war dies aufgrund massiven Grad-Beschusses unmöglich. Der Bus der abreisenden französischen Fernseh-Mannschaft wurde um zwanzig Meter verfehlt. Erleichtert verlassen die Journalisten Misrata nun in Richtung Bengasi. Der Grad-Beschuss geht auch am späten Nachmittag sporadisch weiter. In beinahe jeder Straße finden sich Spuren der Einschläge. Die Rebellen bereiten sich darauf vor, den Flughafen südlich der Küstenstraße sowie die Vororte zu erobern. Im Moment befindet sich ein Gebiet von vierzig Kilometern Breite und zehn Kilometern Länge in ihrer Hand.
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