Es muß kein Kind sein, das ruft: „Der Kaiser ist nackt!“ Manchmal ist es ein Vorstandsmitglied der Bundesbank. Thilo Sarrazin hat es getan, mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“. Der Vorabdruck in Spiegel und Bild fand außerordentlich starke und sehr positive Resonanz, schon vor Erscheinen stand der Band auf Platz eins der Verkaufsliste von Amazon, und das, obwohl Sarrazin nach Herzenslust politische Tabus bricht.
Der Volkstod ist für ihn genauso ein Thema wie die Verblödung durch Einwanderung, die natürliche Ungleichheit der Menschen, das Bereicherungsgeschwätz, die kulturelle Fremdheit des Islam, das Sexualverhalten der Unterschicht, der nationale Selbsthaß der Deutschen oder der fatale Einfluß der Achtundsechziger.
Was da geschieht, ist nicht nur ein Medienereignis, nicht nur das Bedürfnis, eine satte und stumpfe Öffentlichkeit irgendwie zu kitzeln, und auch nicht nur das Kalkül des Establishment, das eine Art Überdruckventil öffnet. Hier wird jener Mentalitätswandel sichtbar, von dem an dieser Stelle vor einem guten Jahr schon die Rede war: allmählicher Verschleiß des alten Denkens, Abbau der Selbstverständlichkeiten, wachsende Scham, noch länger mit dem „intellektuellen Trödel“ (Jacques Le Goff) zu hantieren, der lange, viel zu lange die Debatten bestimmt hat.
Indizien deuten auf Wandel hin
Für diese Interpretation sprechen auch andere Indizien, Basis- genauso wie Überbauphänomene, sogar einzelne Maßnahmen der praktischen Politik, die man als Indizien dafür deuten kann, daß ein Wandel in Gang kommt: von der Mehrheit gegen die Primarschule bei der Hamburger Volksabstimmung bis zur Mehrheit für den Erhalt der Hauptschule in der letzten demoskopischen Erhebung von Allensbach; von der Forderung nach einer neuen konservativen Partei durch den Journalisten Michael Klonovsky und den Wissenschaftler Norbert Bolz bis zur Absicht, den Historikerpreis an den Australier Christopher Clark zu verleihen, der Preußen und Wilhelm II. verteidigt; von der Weigerung der Slowakei, sich am „Rettungsschirm“ für Griechenland zu beteiligen, über das Ende der Quarantäne, die die Etablierten in bezug auf den niederländischen Islamkritiker Geert Wilders verhängt hatten, bis zur Entscheidung der französischen Regierung, 12.000 rumänische Zigeuner des Landes zu verweisen.
Die wichtigste Ursache für diese Veränderung ist der Faktor gesunder Menschenverstand, die seit ’45 oder ’68 systematisch verächtlich gemachte Fähigkeit, Erfahrung und Alltagswissen und Lebensklugheit zum Maßstab zu nehmen. Unbeeindruckt von Expertenmeinungen und Indoktrination scheint ein erheblicher Teil der Bevölkerung bei Trost geblieben zu sein.
Das allein genügt aber nicht. Die schweigende Mehrheit mag eine Mehrheit sein, aber sie verharrt bei sich selbst, wenn Führung und hinreichend klare geistige Konzepte fehlen. Der gesunde Menschenverstand genügt, um das Bestehende zu verteidigen oder die Nische auszukleiden, in die man sich zurückzieht, oder für die innere Reserve, aber er setzt keinen grundsätzlichen Wandel ins Werk.
Deshalb kommt dem Auftreten von Ketzern in der „Kaste der Sinnvermittler“ (Helmut Schelsky) so große Bedeutung zu. Deshalb muß man sorgfältig registrieren, wenn ein politisches Magazin von erheblicher Reichweite über die Notwendigkeit einer neuen Rechtspartei spekulieren läßt und ein Intellektueller, der „dazu“ gehört, solche Häresie aufnimmt und die Position noch einmal deutlich verschärft. In einem Gastkommentar für den Tagesspiegel schrieb Bolz: „Die politische Rechte steht für Bürgerlichkeit. Wenn es ihr gelingen sollte, sich als Partei zu formieren, wäre unsere Gesellschaft endlich auch parlamentarisch balanciert.“
Es sind aber auch die kleineren Abweichungen von der Hauptlinie zu registrieren, wie das geschlossene Lob von Feuilleton und Zunft für Clark, der Schlüsselepochen der deutschen Geschichte einer Umwertung unterzieht. Aus dem angelsächsischen Bereich kam schon früher Kritik an Sonderwegs- oder Alleinschuldthesen, aber das wurde bestenfalls als Außenseitermeinung hingenommen. Damit scheint es vorbei zu sein. Unbekümmert wendet man sich einem wohlwollenderen Bild der nationalen Vergangenheit zu, ohne die übliche Warnung vor den fatalen Konsequenzen für die Geschichtspolitik.
Daß die Deutschen zu Geduld im Übermaß neigen, ist eine altbekannte Tatsache. Auch deshalb sind sie eher bereit, sich umzuorientieren, wenn sie am fremden Modell beobachten und lernen können. Deshalb erscheinen die Maßnahme Sarkozys gegenüber den rumänischen Zigeunern und die massive Unterstützung der eigenen Bevölkerung für diese Maßnahme in einem besonderen Licht. Denn was bei der Diskussion über eine rigide Abschiebungspolitik der Regierung Berlusconi in Italien noch selbstverständlich war, die allfälligen Kommentare und die Nutzung der Faschismuskeule mit sich brachte, das versagt in diesem Zusammenhang.
Politische Veränderungen bereiten sich im kleinen vor
Mehr noch, es wird einfach zur Kenntnis genommen, daß eine europäische Regierung tatsächlich das Problem ernstnimmt, daß Einwanderung kein Vorgang ist, bei dem irgendwelche Individuen irgendeinen Flecken Erde besiedeln, auf dem zufällig andere Individuen leben – sondern daß Kollektive kommen beziehungsweise im Einwanderungsland neu entstehen und diese sich in deutlicher Abgrenzung oder sogar in betonter Feindseligkeit gegenüber den Autochthonen und der bestehenden Ordnung konstituieren. Das wiederum zwingt dazu, davon abzugehen, sich mit den einzelnen zu befassen, und statt dessen die Gruppe in den Blick zu nehmen, die deren ethnisches Kapital repräsentiert und mehrt.
Alexis de Tocqueville schrieb über die große Revolution, es habe niemals ein „weniger vorhergesehenes Ereignis“ gegeben. Politische Veränderungen, auch solche von erheblicher Wirkung, bereiten sich im kleinen vor. Selten durch Hinterzimmerverschwörungen oder die Opferbereitschaft irgendwelcher Auslesegruppen, sondern durch eine veränderte Wahrnehmung der vielen, dann das Auftreten von Dissidenten in den tonangebenden Kreisen, die aus verschiedenen Gründen – bessere Einsicht kann genauso eine Rolle spielen wie Opportunismus – den geltenden Konsens brechen, schließlich durch die Erprobung praktischer Maßnahmen, die bis eben noch als undurchführbar galten.
Es beginnt mit dem, was man Mentalitätswandel nennt, mit der Aufgabe alter Denkgewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, der subkutane Wirkung alternativer Ideen, dem Anheben des Schleiers, der gerade noch über den Dingen lag. Eine solche Entwicklung, einmal eingeleitet, ist schwer aufzuhalten, aber zum Ziel kommt sie nur, wenn es Reserveeliten gibt, die sich die neue Sache zu eigen machen und den nötigen Durchsetzungswillen haben.
JF 36/10