Der Europäer setzt sich nicht auf den Boden und schaut nicht so gerne nach unten, haben wir bei unserer kleinen Betrachtung der abendländischen Mentalität festgestellt – „der gestirnte Himmel über mir“ und „das moralische Gesetz in mir“ hingegen erfüllen, so Kant, „das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung“. Nach oben und nach innen geht also der abendländische Blick. Was sucht er dort?
Er ist auf der Suche nach etwas Ewigem. Zwar haben auch vor- und außerabendländische Kulturen ihre Götter, aber diese gebären sich, erwachsen aus kosmischen Ureiern, haben Tier- und Menschengestalt, zerstückeln und verspeisen sich, gehen in apokalyptischen Schlachten zugrunde; auch sie sind, von Äon zu Äon, dem Werden und Vergehen unterworfen; alles ist Mischung und Übergang.
Der abendländische Blick zielt demgegenüber auf etwas der Zeit Enthobenes, das die Antike im scheinbar ewigen Kreislauf der Gestirne, im Kosmos und der endgültigen Überwindung des uranfänglichen Chaos mit seinen Monstern und Mischwesen erkannte; ein abstraktes Abbild dieser Vorstellung ist die platonische Ideenlehre mit ihren hierarchisch gegliederten geistigen „Sphären“.
Erkenntnis als Selbstzweck
Der neuzeitlich-skeptischen Sichtweise ist solches Vertrauen in die Ontologie als Lehre vom Seienden abhanden gekommen, zuviel Ewiges wurde durch empirische Forschung relativiert und löste sich in der Lauge des Zweifels auf, so daß allenfalls noch im Subjekt selbst, seinen Verstandeskategorien und Anschauungsformen, sowie im moralischen Gesetz etwas schlechthin Gültiges erkennbar sein kann.
Charakteristisch ist dabei, auch für die Introspektion, das Moment der Anschaulichkeit – „theoria“ bezeichnet die Anschauung und gerade nicht die abstrakte Konstruktion von Gedankengebäuden – sowie die Interesselosigkeit. Auch nicht-abendländische Kulturen betrachteten die Gestirne, beschieden sich aber damit, Astrologie zu betreiben. „Was bedeutet dies für uns?“ war die Leitfrage, nicht aber: „Was ist es an sich?“
Drohende Haltlosigkeit
Erkenntnis ist für den Abendländer ein Selbstzweck und ergibt sich aus dem Wesen des Menschen, sofern dieses zu seiner eigentlichen Existenzmöglichkeit durchgedrungen ist: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“ (Aristoteles); auch wenn solches Leben um der reinen Erkenntnis willen zu allen Zeiten der Luxus Weniger gewesen ist.
Nicht nur die wirtschaftliche Aufrechterhaltung solcher Existenz ist das Problem, sondern auch deren meist nicht sehr ausgeprägte Erwünschtheit durch ihr gesellschaftliches Umfeld. Erst wer begonnen hat, alles zu bezweifeln, wer sich eines Tages fragt, warum etwas so und nicht anders ist, wer bemerkt, daß fremde Völker andere Sitten haben und andere Götter verehren, wird sich auf die Suche nach etwas begeben, was ihn vor der drohenden Haltlosigkeit errettet; und dieser Zweifler, Infragesteller, Abseitssteher und Perspektivenwechsler ist seinen Zeitgenossen ein Ärgernis, immer wieder läuft er Gefahr, in ihren Augen „die Jugend zu verderben“ und den Schierlingsbecher trinken zu müssen. Die philosophische Existenz ist stets ein gewagtes und provozierendes Dasein.
Wiederherstellung eines anfänglich-richtigen Zustandes
Gemessen an den Konventionen der „Normalen“ und „Anständigen“ ist der Philosoph ein Neuerer, Aufwiegler und Unruhestifter – da es ihm aber um etwas Ewiges geht, das er nicht mehr in den zeitverhafteten, kulturbedingten Vorstellungen anderer finden kann, ist er gleichsam ein Konservativer auf zweiter, erst noch zu gewinnender und einzunehmender Stufe. Er betreibt keinen Umsturz aus jugendlichem Überschwang, und selbst wenn er revolutionär auftritt, ist seine Revolution – im ursprünglichen Wortsinne der Rückkehr der kreisenden Planeten zu ihrem Ausgangsort – lediglich die Wiederherstellung eines anfänglich-richtigen Zustandes.
In jedem Fall aber ist er auf der Suche; er zweifelt und staunt, er tritt plötzlich mit offenem Mund vor die Welt und „steht gegen das Seiende auf, um es nach seinem Sein zu fragen“ (Heidegger), er richtet sich nicht mehr im Gewohnten ein und begnügt sich weder mit bloßem Glauben und „geoffenbarten“, priesterlich vorgetragenen Lehrmeinungen noch mit zweckgebundenem Sachwissen (techné).
Der Beginn des Staunens und das Streben nach Erkenntnis um ihrer selbst willen sind die ursprünglichen Voraussetzungen der Philosophie, und wenn überhaupt irgendwo, dann sind darin die existenziellen Wesenszüge des abendländischen Menschen zu finden.